Wie wirkt sich Religion auf die Schweizer Gesellschaft aus?

Schadet Religion dem generellen Vertrauen in der Gesellschaft oder hilft sie, es aufzubauen? Das kann so nicht verallgemeinert werden, erzählt Anastas Odermatt im Interview über seine kürzlich publizierte Doktorarbeit. Eine wichtige Rolle spielt die Ausrichtung der jeweiligen Gemeinschaft.

Foto Anastas Odermatt
Dr. Anastas Odermatt

Anastas Odermatt, in Ihrer Dissertation haben Sie untersucht, ob sich Religion eher brückenbildend oder eher konfliktfördernd auf die Gesellschaft auswirkt. Konnten Sie eine Antwort darauf finden?

Ja, ich glaube, ich bin den Antworten zumindest etwas näher gekommen. Religion beziehungsweise Religiosität kann beides leisten: Sie wirkt sowohl brückenbildend als auch konfliktfördernd. Brückenbildend wirkt insbesondere die religiöse Praxis in Form von Gottesdiensten, Freitagsgebeten oder anderen religiösen oder spirituellen Feiern. Das liegt am Aufbau dieser Rituale und ihrer integrierenden Wirkung. Nehmen wir den Gottesdienst als Beispiel. Das Ritual selbst ist strukturiert und formell. Die Menschen sitzen in der Kirche, hören meist zu und lassen das Geschehen auf sich wirken. Dabei entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit und gegenseitiger Solidarität. Direkt nach dem Gottesdienst treffen sich diese Menschen dann beim Hinausgehen oder beim Apéro und reden miteinander. Angeregt von den im Gottesdienst hervorgerufenen Gefühlen und Einstellungen knüpfen sie neue Kontakte und pflegen Bekanntschaften. In diesem eher unstrukturierten und informellen Raum können sich Menschen für religiöses, aber auch nicht-religiöses Engagement anfragen und gegenseitig motivieren. Auf der Strasse oder in vielen anderen sozialen Kontexten kann man nicht so ungehemmt aufeinander zugehen. So sorgt Religion für mehr soziales Vertrauen, sprich: für allgemeines Vertrauen in andere (siehe Box).

Und wie steht es um den negativen Einfluss von Religion auf unsere Gesellschaft?

Negativ wirkt sich Religion auf das soziale Vertrauen aus, wenn die Religiosität der einzelnen exklusivistisch und fundamentalistisch ist. Wer die eigene Position absolut setzt, wertet damit häufig andere Positionen ab. So entstehen Vorurteile. Diese abwertenden Vorurteile schaden dem sozialen Vertrauen. Behandelt jemand andere hingegen gleich und ist gegenüber anderen Positionen offen eingestellt, hemmt das die Bildung abwertender Vorurteile. Das ist bei liberalen religiösen Einstellungen der Fall. Da wirkt Religiosität dann positiv auf das soziale Vertrauen. Der Zusammenhang zwischen Religiosität und sozialem Vertrauen ist also ambivalent: Es gibt sowohl positive als auch negative Effekte. In meinem Buch spreche ich deshalb auch von einem «eigenwilligen» Zusammenhang zwischen Religiosität und Vertrauen.

Zu welchen Ergebnissen gelangten Sie in Ihrer Untersuchung zu spezifischen Konfessionen in der Schweiz?

Es gibt beispielsweise die These, dass reformierte Menschen mehr soziales Vertrauen haben als andere, gerade auch katholische Menschen. Dies ist aber nicht der Fall. Es hat vielmehr mit der demographischen und sozio-ökonomischen Zusammensetzung dieser beiden Gruppen zu tun. Was ich aber entdeckt habe: In historisch reformiert geprägten Kantonen ist das soziale Vertrauen im Allgemeinen tatsächlich höher als in historisch katholisch geprägten Kantonen. Der Unterschied ist zwar nicht riesig, aber ich war überrascht, dass es ihn dennoch gibt. Dies lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass religiöse Strukturen lange Zeit auch gesellschaftliche Strukturen mitprägten. Historisch betrachtet wurden in reformierten Kirchgemeinden hierarchisch klerikale Strukturen eher abgewertet und umso mehr Wert wurde auf Laienarbeit gelegt. Auf katholischer Seite hingegen waren und sind bis heute häufig hierarchisch klerikale Strukturen stark verbreitet. Solche Strukturen sind häufig mit Macht und Zwang verbunden, was sich negativ auf Soziales Vertrauen auswirkt.

Ein weiterer Befund ist, dass das soziale Vertrauen bei Personen mit muslimischem Hintergrund tiefer ist als bei anderen Konfessionen. Würde man von bestimmten politisch kultivierten Vorurteilen ausgehen, könnte man nun vorschnell vermuten, das läge an der Herkunft oder Kultur dieser Gruppe. Das konnte ich in meiner Untersuchung aber ausschliessen. Auf diese Faktoren hin habe ich statistisch bestmöglich kontrolliert. Vielmehr sind es gesellschaftliche Vorurteile, die dazu führen, dass Musliminnen und Muslimen weniger Vertrauen entgegengebracht wird und dass sie gar Misstrauen und Diskriminierung erfahren. Die Folge davon ist dann wiederum ein tieferes soziales Vertrauen von Musliminnen und Muslimen selbst.

In der Religionslandschaft der Schweiz sind zudem die jüdische Glaubensgemeinschaft, andere christliche Glaubensgemeinschaften und weitere Religionsgemeinschaften vertreten. Wie beeinflusst religiöse Diversität das Vertrauen in der Gesellschaft?

Bisherige Studien sind dabei zu ganz unterschiedlichen Resultaten gekommen. Mal gab es einen positiven Zusammenhang zwischen Diversität und sozialem Vertrauen, mal einen negativen und mal auch gar keinen. Das hat möglicherweise auch mit der zeitlichen Komponente, das heisst mit der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu tun. So gibt es die These, dass zunehmende religiöse Vielfalt in einem ersten Moment soziales Vertrauen tatsächlich eher hemmt. Mit der Zeit, vermehrtem Kontakt und gegenseitigem Austausch sollte sich das aber legen und sogar umdrehen. Die religiöse Diversität nahm in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten ganz klar zu. Ob es dadurch zu einem Auf und Ab beim sozialen Vertrauen generell kam, kann meine Analyse nicht beantworten, da es sich dabei um eine Querschnittstudie, das heisst um eine Momentaufnahme, handelt. Was ich aber mit dieser Momentaufnahme belegen konnte ist, dass religiöse Vielfalt in der Schweiz gegenwärtig einen durchaus positiven Effekt auf soziales Vertrauen hat. Vielfalt hängt positiv mit sozialem Vertrauen zusammen.

Sind Sie im Laufe Ihrer Forschung auf weitere Resultate gestossen, die Sie überrascht haben?

Ja, es gab einige Überraschungen. So hat mich vor allem der Null-Effekt zwischen freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen überrascht. Ich hätte hier zumindest einen kleinen Effekt erwartet, aber es ist tatsächlich ein Null-Effekt. Sprich: Soziales Vertrauen entsteht nicht per se, wie häufig angenommen, durch freiwilliges Engagement. Vielmehr sind es dieselben Bedingungen, die Vertrauen und Engagement beeinflussen. Diese sind beispielsweise bestimmte Persönlichkeitsstrukturen, der Bildungsgrad, Armutsbetroffenheit, Migrationserfahrungen oder Religiosität.

Eine zweite Überraschung waren die deutlichen Effekte religiöser Rituale und der religiösen Ausrichtung als fundamentalistisch bzw. liberal auf soziales Vertrauen. In der bisherigen Forschung blieb es hier immer etwas schwammig. Der Grund dafür liegt aber darin, dass bisherige Studien häufig die religiöse Ausrichtung nicht mituntersucht haben. Wenn man sie aber nicht gesondert untersucht, überdeckt die religiöse Ausrichtung die anderen Effekte von Religiosität. Das konnte ich in meiner Arbeit belegen.

Können Sie aus den Erkenntnissen Ihrer Studie konkrete Handlungsempfehlungen ableiten?

Ja, ich habe hier drei Empfehlungen. Erstens sollte man die Ansicht vergessen, dass Religion per se gute oder per se schlechte Wirkungen hat. Das stimmt so oder so nicht. Für das soziale Vertrauen ist es beispielsweise viel wichtiger, wie Menschen religiös eingestellt sind. Wenn nun religiöse Gemeinschaften soziales Vertrauen fördern wollen, müssten sie liberale Ansichten stärken und verabsolutierende Kräfte und Ansichten ablehnen. Zweitens sind Rituale – seien sie religiös oder nicht-religiös – wichtig, um komplexe Gesellschaften zu koordinieren und zu integrieren. Seien es Feiertagsregelungen oder andere Regeln, Gesetze und Normen: Feiern, Feste und Rituale benötigen Zeit, Raum und Ressourcen. Und schliesslich drittens: Wenn man gesellschaftspolitisch freiwilliges Engagement und soziales Vertrauen in der Gesellschaft fördern will, müsste man in Bildung investieren und Armut bekämpfen. Bildung wirkt hier klar positiv, während Armut klar negativ wirkt.

Das Interview wurde von Toni Rasic, Masterstudent der Philosophie und Ethik, geführt.

Weitere Informationen

Soziales Vertrauen meint ein Grundvertrauen in Menschen generell und damit die Überzeugung und Erwartungshaltung, dass Menschen allgemein vertrauenswürdig sind. Es ist für ein erspriessliches Funktionieren der Gesellschaft wichtig. Wer beispielsweise dem Gegenüber vertraut, muss nicht für jede Interaktion, jeden Handel oder jede Abmachung einen aufwändigen Vertrag abschliessen.

Zur Methode: Aufgrund von bestehender Theorie und bisherigen Forschungserkenntnissen hat Anastas Odermatt zu allen Forschungsfragen Hypothesen gebildet, also Annahmen darüber getroffen, wie entsprechende Zusammenhänge aussehen sollten. Mittels repräsentativer Bevölkerungsdaten aus dem KONID Survey 2019, die im Rahmen eines SNF-Projekts an der Universität Luzern erhoben wurden, hat er diese Zusammenhänge dann statistisch überprüft. Konkret hat er dafür logistische Regressions- und Mehrebenenmodelle erstellt, analysiert und dann vor allem auch interpretiert.

Zur Person: Anastas Odermatt promovierte 2022 an der Universität Luzern mit einer Dissertation über Religion und Sozialkapital in der Schweiz. Sein Dissertationsprojekt untersuchte basierend auf den Daten des KONID Survey 2019 die Zusammenhänge zwischen Religion und Religiosität, freiwilligem Engagement und sozialem Vertrauen in der Schweiz. Neben gegenwärtigen Erscheinungsformen von Religion in der Schweiz forscht er auch zu quantitativen Methoden der Sozialforschung und zu Religion und Identität bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Buchpräsentation: Am 16. August stellt Dr. Anastas Odermatt seine Dissertation an der «Uni-Night» der Zwischennutzung universum auf dem Inseli Luzern vor. Zur Veranstaltung