Die verlorenen Töchter bekommen eine Stimme

«Ausheirat» wurde jenes Ereignis genannt, wenn eine Frau einen ausländischen Mann heiratete und dadurch ihr Bürgerrecht verlor. Dies kostete viele Schweizerinnen bis 1952 nicht nur den Pass, sondern auch die gesamte Lebensgrundlage.

Dr. phil. Silke Margherita Redolfi an der Uni Luzern mit ihrem Buch "Die verlorenen Töchter"

Die Bündner Historikerin Dr. phil. Silke Margherita Redolfi kam im Rahmen des Forschungskolloquiums zur Geschichte der vormodernen und modernen Welt an die Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät und referierte zum Thema «Frauen- und Geschlechtergeschichte als Prüfstein staatlicher Kontrolle. Wie das Bürgerrecht der Schweizerin den Rechtsstaat auf die Probe stellte».

Die letzten lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Die Heiratsregel habe in der Schweiz bis 1952 geherrscht und hätte weitreichende Folgen für die Betroffenen und ihre Familien gehabt; darüber sei aber lange Zeit geschwiegen worden. «Die Heiratsregel verbarg Schicksale, die bisher noch niemand wahrgenommen hat», so die 56-jährige Historikerin, die sich deshalb entschloss, bei der Forschungsarbeit für ihre Dissertation auch die Stimmen von Betroffenen zu berücksichtigen. «Es wurde mir schnell bewusst», ergänzte Redolfi, «dass dies die letzte Möglichkeit war, noch Zeitzeugen zu finden, denn es betraf die Generation des Zweiten Weltkriegs und die Menschen waren bereits im fortgeschrittenen Alter.»

Die «Ausländische Braut»
Durch ihre Recherchen kam eine schier unglaubliche Geschichte der Schweiz zu Tage, die Recht, Formalität und Zweckdenken über Menschlichkeit stellte. «Es ist eine Geschichte, die ich so nicht erwartet hätte, und eine Geschichte, die am Image der humanitären Schweiz kratzt». Vom Verlust der Staatsbürgerschaft waren nur Frauen betroffen. Sie verloren aber nicht nur ihr ursprüngliches Bürgerrecht, jede «ausländische Braut» musste ein Gesuch stellen, um das Bürgerrecht ihres Ehemannes zu erhalten. Immerhin – sollte der Schweizerin Staatenlosigkeit drohen, weil sie kein neues Bürgerrecht erhielt oder es gar nicht erst beantragte – durfte sie ihr Schweizer Bürgerrecht behalten.

Keine Chance auf Rückkehr in die Schweiz
Es blieb den Behörden allerdings nicht unverborgen, dass Gesuche absichtlich nicht gestellt wurden, um Schweizerin zu bleiben, und man habe dies mit allen Mitteln zu verhindern versucht, ergänzt die Referentin. Insbesondere zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, als viele Schweizerinnen versucht hätten, sich aus Nazideutschland in die Schweiz zu retten, hätten die inhumanen Massnahmen zu unsäglichem Leid geführt. Die Schweizerinnen blieben in Deutschland und jene, die einen Mann jüdischer Herkunft geheiratet hatten, endeten nicht selten im Konzentrationslager. «Zurück blieben bis heute die Verbitterung und die Tränen bei Familienangehörigen», ergänzte die Historikerin.

Dringend mehr Forschung nötig
Viele Fragen blieben weiterhin offen, so Redolfi zum Abschluss, und es müsse dringend noch weitere Forschung zum Thema geben – mit ihrer Arbeit habe sie erst den Anfang gemacht. Viele der Betroffenen, mit denen sich Redolfi getroffen hatte, sprachen zum allerersten Mal mit jemandem über diese traumatischen Erlebnisse und waren dankbar, dies endlich tun zu können. Der Historikerin merkte man während des Referats deutlich an, wie berührt sie von den persönlichen Schicksalen ist, und auch bei den Zuhörerinnen und Zuhörern war die Betroffenheit spürbar.Solche beklemmenden Momente sind zuweilen notwendig, möchte man die Augen vor den Tatsachen nicht verschliessen.


Dr. Silke Redolfis Dissertation erschien 2019 als Buch im Chronos-Verlag: «Die Verlorenen Töchter»

Die Forschungskolloquien der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät sind öffentlich und werden momentan auch digital angeboten. Zu den aktuellen Veranstaltungen.
 

Dieser Beitrag wurde von der Studentin Denise Donatsch verfasst. Sie studiert den Bachelorstudiengang Philosophie.