Theorie wird greifbar: Ein gewinnbringender Praxisbeitrag aus dem Soziologischen Seminar
Was bedeutet Partizipation? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns derzeit im Soziologischen Seminar «Polykrise: Sind partizipative Organisationsformen die Lösung» von Nadine Arnold. Seit Februar setzen wir uns mit dem Begriff aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und mit Blick auf verschiedene Organisationen und Kontexte (z.B. Wirtschaft und Unternehmen, Entwicklungshilfe, Politik und politische Organisationen) auseinander. Dabei zeigte sich schnell: Partizipation ist ein zentrales, komplexes Thema, das viele Deutungen zulässt.
Partizipation – ein schillernder Begriff, der Perspektivenwechsel verlangt
Was zunächst abstrakt klingt, wurde im Seminar theoretisch aufgerollt. Dies provozierte vielerlei Fragen: Führt mehr Teilhabe automatisch zu einer inklusiveren Gesellschaft – oder braucht es erst eine inklusive Gesellschaft, damit echte Teilhabe möglich ist? Und werden durch Partizipation tatsächlich Minderheiten gestärkt, oder verändern sich nur oberflächlich die Machtverhältnisse? Ist Partizipation ein Ziel oder doch eher ein transformativer Prozess? Und wie werden die Stimmen von Mitarbeitenden in Organisationen eingeholt und gestärkt? Diese und weiterführende Fragen führten in den Seminarsitzungen zu spannenden Diskussionen.
Dabei beschäftigten wir uns auch mit einer kürzlich erschienen Studie von Vivian Visser und ihren Kollegen, die Folgendes untersuchten: Warum machen viele Menschen ohne höhere Bildung kaum bei Bürgerinitiativen mit? Und wie kann ihr Wissen dennoch in politische und wissenschaftliche Entscheidungen einfliessen? Die Antwort liegt für die Soziologin und ihre Kollegen in einem Perspektivenwechsel: Es geht nicht darum, Menschen „abzuholen“, sondern ihnen Raum zu geben, ihre Alltagserfahrungen als wertvolles Wissen einzubringen.
In der Stadt Luzern, ist es Edina Kurjakovic, die sich in ihrer Rolle als «Fachfrau für Quartierentwicklung und Partizipation» um die Partizipation bei der Quartierentwicklung kümmert und dabei den dafür notwendigen Raum schafft. Sie hat unser Seminar am 29. April 2025 mit einem Praxisbeitrag bereichert.
Perspektivenwechsel im Seminarraum – und wie die Stadt Luzern Quartiere für alle gestaltet
Als Gast im Masterseminar erklärte Edina Kurjakovic einleitend, dass sie ein grosses Ziel verfolgt: Sie möchte Wohnquartiere in der Stadt Luzern schaffen, in denen sich alle wohlfühlen – vom Rollstuhlfahrer bis zur Hundebesitzerin. Dabei achtet sie nicht nur auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch auf kantonale Vorschriften, die Arbeit der Architekten und die Realität der Handwerkerinnen. Auch Autofahrerende sollen Parkplätze finden, Kinder sichere Wege haben und ältere Menschen sich gut orientieren können. Ein Balanceakt, der für Edina Kurjakovic zum Alltag gehört.
Weiter erklärte sie uns: „Partizipation sind Massnahmen, die es der Bevölkerung ermöglichen, an Entwicklungsprozessen mitzuwirken.“ Für sie ist der akademisch oft schwer greifbare Begriff der Partizipation gelebte Praxis. Dabei wurde im Gespräch mit den Studierenden schnell klar: Auch im Berufsalltag von Edina Kurjakovic ist Partizipation nicht perfekt und vollkommen umgesetzt. „Partizipation ist kein Ziel, das man irgendwann erreicht – sie ist ein Weg“, sagt sie. Und auf diesem Weg, so fügte sie hinzu, gebe es immer Luft nach oben.
So teilte sie mit uns aber auch ihr Erfolgsrezept: Sie bringt alle Beteiligten frühzeitig an den runden Tisch. Und zwar wortwörtlich. Denn sie weiss: Oft scheitert die Zusammenarbeit daran, dass Menschen aus unterschiedlichen Fachgebieten Hemmungen haben, Fragen zu stellen oder Kritik zu äussern – besonders, wenn sie nicht selbst Expertinnen oder Experten in dem Thema sind. Darum dreht Edina Kurjakovic den Spiess um. Für sie ist jeder Mensch ein Experte oder eine Expertin – für seine und ihre Anliegen. Am runden Tisch sitzen nicht nur Architektinnen oder Bauherren, sondern auch Kinder, Lehrpersonen und Quartierbewohnende. Die Studierenden erfuhren so, wie ein theoretisches Konzept wie „Partizipation auf Augenhöhe“ konkret umgesetzt wird – und wo es an Grenzen stösst.
Was wir Studierende vom Gastbeitrag mitnehmen
Der Gastbeitrag von Edina Kurjakovic hat uns gezeigt, wie herausfordernd, aber auch wie wertvoll das Praktizieren von Partizipation in der Quartierentwicklung sein kann. Beteiligung funktioniert nicht auf Knopfdruck – sie ist ein dauerhafter Prozess, der Offenheit, Zeit und den Mut zur Vielfalt braucht. Edina Kurjakovic hat uns dabei nicht nur Einblicke in ihren Berufsalltag gegeben, sondern vor allem auch Folgendes vermittelt: Wer Menschen wirklich mitgestalten lassen will, muss ihnen zuhören und ihre Perspektiven ernst nehmen.
Zugleich wurde durch ihren Beitrag für uns deutlich: Soziologische Theorie muss nicht im Seminarraum bleiben. Durch Gastbeiträge, wie denjenigen von Edina Kurjakovic und ihre authentischen Praxiseinblicke wird die Theorie lebendig, greifbar und noch bedeutungsvoller.
Literatur:
Visser, V., de Koster, W., & van der Waal, J. (2023). Understanding less-educated citizens’(non-) participation in citizens’ initiatives: Feelings of entitlement and a taste for politics. Current Sociology, 71(5), 924-942.