Ist Religion (noch) relevant? Warum Statistiken nur die halbe Wahrheit erzählen

Bis 2050 wird laut Prognosen mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft mehr angehören. In ihrer gemeinsamen Abschiedsvorlesung fragen Prof. Dr. Martin Baumann und Dr. Andreas Tunger-Zanetti, warum Religion trotzdem für das gesellschaftliche Zusammenleben eine wichtige Rolle spielt.

Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung versteht sich als keiner Religionsgemeinschaft zugehörig. Viele Religionssoziologinnen und -soziologen betonen zudem die Säkularisierungsthese – die Annahme, dass jede Generation etwas weniger religiös sei als die vorherige. Gleichzeitig entstehen in der ganzen Schweiz neue religiöse Gemeinschaften, und der Markt für alternative Spiritualität boomt. Wie lassen sich diese Gegensätze erklären? Und was sagen sie über die Relevanz von Religion in der Gesellschaft aus?

Diese Fragen standen im Zentrum der gemeinsamen Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Martin Baumann, der im kommenden Januar emeritiert wird, und Dr. Andreas Tunger-Zanetti. Vor einem bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaal der Universität Luzern schlossen die beiden Religionswissenschaftler die Ringvorlesung mit einer differenzierten Antwort auf die grosse Frage nach der Bedeutung von Religion in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft ab.

 

Säkularisiert und trotzdem religiös?

Baumann betonte, dass die Zahlen des Bundesamts für Statistik zur Religionszugehörigkeit keineswegs ein Alleinkriterium für die Bedeutung von Religion in unserer Gesellschaft darstellen würden. Die Statistik erfasse lediglich die individuelle Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften; sie sage jedoch nichts über alternative Formen von Spiritualität oder die Motive hinter Kirchenaustritten aus. Die Zahlen seien vielmehr Ausdruck einer religiösen Selbstermächtigung: von Menschen, die sich nicht an Dogmen und den obligatorischen sonntäglichen Kirchgang gebunden fühlen, sondern ihre eigene, individuelle Suche nach Religiosität oder Spiritualität verfolgen. Dies entspreche einem allgemeinen Individualisierungstrend, der sich besonders deutlich in Zahlen niederschlage

Ein Blick auf die Säkularisierungstheorie greift offenbar auch zu kurz, wenn es um die vielen Neugründungen religiöser Gemeinschaften geht. Das religionswissenschaftliche Seminar der Universität Luzern hat im Projekt «Religionsvielfalt im Kanton Luzern» eine Karte aller religiöser Gemeinschaften des Kantons erstellt: Knapp 230 Kirchgemeinden und religiöse Gemeinschaften finden sich darauf. Diese Karte macht – wie beide Referenten betonten – eindrücklich sichtbar, dass Religion plural zu denken sei. Die katholischen Kirchen und Kuppeln, die das Landschaftsbild prägen, sind nur ein Teil dieser religiösen Vielfalt, zu der auch viele im Stadtbild unsichtbare buddhistische Zentren und Moscheen gehören.

 

Warum Religion alle etwas angeht

Religion ist und bleibt relevant, wie Tunger-Zanetti hervorhebte. Unsere freiheitlich-direkte Demokratie sei darauf angewiesen, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Überzeugungen miteinander leben – religiöse Menschen ebenso wie überzeugte Atheistinnen und Atheisten. Für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben brauche es ein Mindestmass an Verständnis füreinander. Ein zentrales Mittel dazu sei religiöse Bildung. Ebenso gefragt seien Medien und Politik, die sich nicht auf Stereotypen und Schlagzeilen beschränken, sondern sich ernsthaft mit gelebter religiöser Praxis auseinandersetzen. Hier kommt die wissenschaftliche Expertise ins Spiel, wie Baumann und Tunger-Zanetti sie den Medien seit Jahren zur Verfügung stellen. Sie erlaubt es, Religion in ihrer Vielfältigkeit differenziert und nüchtern zu betrachten, statt vorschnell zu urteilen, so Baumann.
 

Religion: Relevanter als die Zahlen zeigen

Religion ist und bleibt relevant – zugleich müsse differenziert hingeschaut werden. An die Stelle voller Kirchbänke und prachtvoller Hochzeiten in Kirchen würde heute das private, individuelle Meditieren zu Hause sowie die religiöse Praxis in oft versteckten buddhistischen Zentren und Moscheen treten. Wer die Relevanz von Religion verstehen will, komme mit Statistiken allein nicht weiter: Es braucht die Expertise von Fachleuten und die Stimmen der oft übersehenen religiösen Akteur*innen – etwa Imamen und Leiterinnen buddhistischer Zentren –, wie sie in dieser Ringvorlesungsreihe zu Wort kamen.

 

Weitere Informationen zur Ringvorlesung

Programmflyer

Dieser Beitrag wurde von Michael Bieri, Masterstudent in Ethnologie und Religionswissenschaft, verfasst.