Sarajevo: Eintauchen ins europäische Jerusalem

In diesem Frühjahrssemester fand ein Blockseminar inklusive einwöchiger Studienreise nach Sarajevo statt. Hier setzten sich die Teilnehmenden mit kultureller und religiöser Identität auseinander – eine intensive Erfahrung.

Geschichtsträchtiger Ort: Die Reisegruppe im ehemaligen Rathaus in Sarajevo, das im Bosnienkrieg zerstört und 2014 als National- und Universitätsbibliothek wiedereröffnet wurde.

Moscheen neben Kirchen neben Synagogen. Bosniaken, Kroaten, Serben und andere – letztlich alles Sarajlije, also Einwohnerinnen und Einwohner Sarajevos: Aufgrund ihrer multireligiösen und multikulturellen Zusammensetzung wird die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina oft als «europäisches Jerusalem» bezeichnet. Und das hautnahe Erleben genau dieser Vielfalt von Lebenswelten, Identitäten und Erinnerungsnarrativen stand im Zentrum der Studienreise in der ersten Aprilwoche. Und hat nachhaltige Spuren hinterlassen. So sagt etwa Pascal Wüst: «Die zahlreichen spannenden Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen waren sehr prägend.» Der Theologiestudent ist einer der 23 Teilnehmenden der inter- und transdisziplinären Lehrveranstaltung, die letzte Woche mit einer öffentlichen Abschlussveranstaltung zu Ende ging. «Die unermüdliche Arbeit, eine Einheit in versöhnter Vielfalt etablieren und leben zu wollen, hat mich beeindruckt», so Wüst. Unter anderem hatte die Gruppe auch die Gedenkstätte für die Opfer des Völkermordes 1995 in Srebrenica und diejenige für die KZ-Opfer in Jasenovac besucht. Wie Geschichtsstudent Stefan Lazic berichtet, habe die Atmosphäre jenes Ortes ihn «mit tiefer Trauer und Empathie, die ich so bisher nicht gekannt hatte, erfüllt». Pädagogikstudentin Estelle Ophelia Bassal resümiert für sich insgesamt: «Wenn wir nach Gleichheiten suchen und diesen mehr Beachtung schenken als den Unterschieden zwischen uns, werden wir reicher und gemeinsam stärker.»

«Friedenspotenziale ausgelotet»

Dr. Martin Steiner, Professurvertreter für Judaistik und Theologie, war Hauptorganisator der «Sarajevo – Das europäische Jerusalem» betitelten Lehrveranstaltung. Bei dieser wirkten Dozierende aus der Judaistik, der Theologie und der Islamischen Theologie sowie aus den Kultur- und Literaturwissenschaften mit; dies widerspiegelnd, nahmen Studierenden aus unterschiedlichen Studiengängen und -richtungen teil. Steiner betont, dass interkulturelle und -religiöse Sensibilität in einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft für das gemeinsame Zusammenleben absolut zentral seien und kulturelle und religiöse Konflikte vielerorts den Alltag erreicht hätten. «Mit dem Projekt wollten wir einer Komplexitätsreduktion entgegenwirken und einen Einblick in die Vielfalt interreligiösen Zusammenlebens, für das Sarajevo ähnlich Jerusalem exemplarisch steht, ermöglichen.» Zudem habe man im Rahmen der Begegnungen vor Ort, «indem unterschiedliche Religionsgemeinschaften und deren Zusammenleben im Fokus standen, theologische Friedenspotenziale ausgelotet».

Der mitbeteiligte Prof. Dr. Boris Previšić, Titularprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaften, sagt: «Mit Sarajevo haben wir Europas wichtigsten und lehrreichsten Hotspot ins Visier genommen: den Kreuzungspunkt imperialer Grossräume und Vergangenheiten, Kulturen und Religionen zum einen und Ort des Widerstands gegen einen rabiaten Nationalismus zum anderen.» Für Prof. Dr. Erdal Toprakyaran, Professor für Islamische Theologie, hat die Studienreise veranschaulicht, «welche fatalen Folgen die Instrumentalisierung von Religion haben kann. Ich fühle mich jetzt noch stärker motiviert, die für den Weltfrieden essenzielle jüdisch-christlich-muslimische Begegnung und Freundschaft zu fördern.» Dr. Richard Blättel, temporärer Lehrbeauftragter und Habilitand in Judaistik, erklärt: «Diese Reise hat mir in dichter Form die fundamentale Bedeutung des Erinnerns aufgezeigt, das der Vergangenheit eingedenk bleibt, um für die Zukunft einer Banalität der Gleichgültigkeit entgegenzutreten.» Gleichzeitig habe ihn das «lebensfrohe Leuchten Sarajevos, als hoffnungsvolles Zeichen einer offenen Gesellschaft», beeindruckt. Und Fabian A. Pfaff, römisch-katholischer Hochschulseelsorger bei «horizonte», Hochschulseelsorge Campus Luzern, sagt: «Im Angesicht des Fremden wurde das Eigene zu einem zentralen Thema: ‹Wo stehe ich? Was glaube ich? Woraus besteht meine eigene Identität?› – Dies hat mich besonders fasziniert.»

Fortsetzung denkbar

Ob das Blockseminar und die Studienreise 2025 wiederum angeboten werden, ist noch nicht definitiv, «aber es würde sich aufgrund der einmaligen Möglichkeit des so essenziellen interreligiösen und -kulturellen Dialogs und der sehr positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden auf jeden Fall anbieten», so Martin Steiner. Institutionell waren das sowohl an der Theologischen Fakultät als auch an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät verortete Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) und das Zentrum für Theologie und Philosophie der Religionen an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern sowie das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Tübingen involviert. Die Lehrveranstaltung wurde in Kooperation mit «horizonte» durchgeführt und von «Katholisch Stadt Zürich», dem Verband der römisch-katholischen Kirchgemeinden der Stadt Zürich, mitfinanziert.

Interview mit Martin Steiner im Magazin «Doppelpunkt»
Erfahrungsbericht der Studentin Estelle Ophelia Bassal
Erfahrungsbericht der Studentin Chantal Hüsler
An der Abschlussveranstaltung gezeigte Präsentation mit Fotos und Zitaten
Flyer zur Blockveranstaltung mit weiteren Informationen
 

Film mit Impressionen von der Studienreise