Religion und gesellschaftliche Integration

Werden demokratische Gesellschaften durch Religionen eher zusammengeschweisst oder destabilisiert? Dieser Frage geht der universitäre Forschungsschwerpunkt REGIE nach. Dieser läuft neu bis 2016 – Zeit für eine Zwischenbilanz und einen Ausblick.

Vielfalt und Gemeinsamkeit: religiöse Symbole an einem Haus an der Bernstrasse in Luzern. (Bild: M. Bucher)

 

REGIE steht für "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa". Der Forschungsschwerpunkt wurde Ende 2009 für zunächst fünf Jahre eingerichtet, nun hat die Universitätsleitung grünes Licht für eine zweijährige Verlängerung gegeben. Der Cluster besteht aus Teilprojekten von fünf Professoren aus der Theologischen Fakultät sowie aus der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.

Mit von der Partie sind unter anderem Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte, und Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion im Masterstudiengang "Religion – Wirtschaft – Politik". Im letzten Jahr wurde der erste REGIE-Band veröffentlicht.

Der Titel des Buches lautet: "Integration durch Religion?" (siehe Buchpräsentation) Welche Antwort kann darauf gegeben werden?
Antonius Liedhegener: Unser erster Band war eine Bestandsaufnahme zur internationalen Forschung und entsprechend vielstimmig. Im zweiten REGIE-Band "Integrationspotenzial von Religion" mit den Ergebnissen aus den verschiedenen Teilprojekten, dessen Publikation auf Anfang 2016 geplant ist, werden wir ein provokantes Ja auf diese Frage formulieren – wohlgemerkt gegenläufig zum gegenwärtig vorherrschenden medialen Bild.

Was veranlasst Sie zu diesem – wie manche sagen würden – optimistischen, Befund?
Liedhegener: Dafür gibt es gute Gründe. So zeigt sich bei meinem Teilprojekt "(Nur) zivilgesellschaftliche Akteure?" unter anderem, dass es sich bei christlichen Kirchen um wichtige Bestandteile der Zivilgesellschaft handelt, was klar zur Stärkung des Zusammenhalts beiträgt. Bei muslimischen Gemeinschaften – ein weiteres Forschungsfeld am Religionswissenschaftlichen Seminar – kann festgestellt werden, dass diese in aller Regel daran interessiert sind, integrativ eingebunden zu sein. Gerade kleinere Religionsgemeinschaften stellen für Zugewanderte oft Brücken in die neue Umgebung dar. Auch auf theoretischer Ebene lässt sich argumentieren, dass Religionen einen Beitrag zur Entwicklung von Demokratie leisten und den Grundkonsens einer pluralistischen Gesellschaft stärken können.

Markus Ries: Die Arbeit an meinem kirchengeschichtlichen Teilprojekt "Funktionswandel von Religion und modernen Gesellschaften" macht den Nachweis möglich, dass bei Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Veränderung der sozialen Umgebung und die dadurch notwendigen Integrationsprozesse nicht nur Fremd- und Selbstwahrnehmungen beeinflussen, sondern auch die religiöse Praxis und die Funktion von Religion verändern können – und zwar auf beiden Seiten. Neu hinzutretende Gruppen provozieren Widerstand und Ausgrenzung; die Folge sind verschiedene Krisen, die aber auch eigene Potenziale für den Wandel von Gesellschaften bieten.

Wie kann Integration durch Religion gelingen?
Liedhegener: Nehmen wir das Teilprojekt "Public Religions und Public Theology" von Edmund Arens, Professor für Fundamentaltheologie: Er hat untersucht, wie religiöse Gruppen öffentlich auftreten und sprechen, und dabei zwischen verschiedenen Arten von Öffentlichkeit unterschieden, u.a. einer medialen und politischen. Auch die eigene öffentliche religiöse Praxis gehört dazu. Sein Befund: Die Integration von Religionsgemeinschaften gelingt besser, wenn sie an allen diesen Arten von Öffentlichkeit
teilhaben.

Die Professoren Markus Ries (vorne) und Antonius Liedhegener beim Interview. (Bild: Dave Schläpfer)

Mit welchen Themen beschäftigen sich die weiteren in REGIE involvierten Forscher?
Liedhegener: In "Religion Going Public" befasst sich Martin Baumann, Professor für Religionswissenschaft, mit der Sichtbarkeit von Religion und der Praxis religiösen Bauens. Gewisse Sakralbauten sind ja sehr umstritten, bei anderen läuft alles geräuschlos ab. Als entscheidend erweist sich, ob und wie gut es den religiösen Gruppierungen gelingt, vorab Brücken in ihr soziales Umfeld bauen zu können.

Ries: Wolfgang W. Müller, Professor für Dogmatik, befasst sich im Teilprojekt "Doppelte Identitäten" mit der Frage, was passiert, wenn in einem Menschen verschiedene Kulturen und Religionen aufeinanderstossen. Zum Beispiel müssen ja die grossen Kirchen mit der Situation umgehen, dass ihre Mitglieder in verschiedenen Rollen agieren, z.B. in interkonfessionellen oder -religiösen Ehen leben. Die Entstehung und Wirkungen von religiösen sozialen Identitäten und ihre Prägungen durch Selbst- und Fremdbilder ist generell ein Thema, das in unseren Forschungen vermehrt in den Mittelpunkt gerückt ist. Darum haben wir "Religiöse Identitäten" als Arbeitsschwerpunkt für die folgenden zwei Jahre festgelegt.

Was alles ist im Rahmen von REGIE+, wie die Abschlussphase bezeichnet wird, noch geplant?
Liedhegener: Im Frühjahrssemester 2016 findet die vierte Vortragsreihe der "Religion and Integration Lectures" statt und im Herbst wird eine Abschlussveranstaltung durchgeführt – beide Anlässe sind öffentlich. Anfang 2017 soll unser dritter und letzter Band erscheinen. Zudem treffen sich die am Schwerpunkt Beteiligten wie in den Vorjahren jeweils im Sommer zu einer Forschungswoche.

Was muss man sich darunter vorstellen?
Ries: Das Thema "Religion und gesellschaftliche Integration" weist sehr viele verschiedene Aspekte auf, die methodologisch unterschiedlich angegangen werden können. Vor diesem interdisziplinären Hintergrund kommt dem Dialog ein wichtiger Stellenwert zu. Daher haben wir das Format Forschungswoche – eine Art Retraite – entwickelt, in der Theoriekonzepte und Schlüsseltexte diskutiert werden. Auch nutzten wir die Zeit, um Kooperationen zu festigen, so jene mit der Universität Leipzig.

REGIE war ja – vor TeNOR (siehe Kontextelement unten) – der erste universitäre Forschungsschwerpunkt an der Universität Luzern. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Liedhegener: Gute, uns war ja auch das interdisziplinäre Arbeiten durch die Praxis an unserer Uni keineswegs unbekannt. Ein solcher Austausch wirkt überaus befruchtend. Man muss sich einfach darüber im Klaren sein, dass es neben einer soliden Förderung dafür zwei Voraussetzungen braucht: genügend Zeit und den Willen, sich auf andere Disziplinen einzulassen. Dann entsteht auch Neues, oftmals gänzlich Unerwartetes. Mein SNF-Projekt "Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE)" (siehe früherer Artikel) ist solch ein "Spin-off" von REGIE.

Es wurde eingangs erwähnt und fällt generell auf, dass zumindest in der populären Tagespresse die Frage "Integration durch Religion?" vielfach eher negativ beantwortet wird … Was können die Gründe sein, dass man von wissenschaftlicher Warte aus zu einer anderen Einschätzung gelangt?
Markus Ries: Wissenschaft gewährleistet Reflexion und Herstellung von Zusammenhängen über den Tag hinaus. Durch einen Schritt zurück und den Miteinbezug auch der historischen Dimension resultiert ein vergrössertes Gesichtsfeld, durch das es möglich wird, aktuelle Brennpunkte umfassender einzuordnen und zu verstehen.

Antonius Liedhegener: Wissenschaft unterscheidet sich ja gerade insofern von anderen Diskursen, als dass sie Verlässlichkeit von Aussagen herstellt, was sie nutzbringend für die Gesellschaft macht. Man mag zwar langsamer sein, gewinnt aber letztlich das Rennen um eine bessere Lösung. Diese Erfahrung durfte ich kürzlich mit einer gewissen Befriedigung machen. Dies als das deutsche Bundesverfassungsgericht zum Schluss kam, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen verfassungswidrig ist. 

 

Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 51, April 2015.
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