Grundlagenforschung zur Religionszugehörigkeit

Zwei Forscher der Universität Luzern haben in den letzten vier Jahren eine neuartige Datenbank zur Religionszugehörigkeit in Europa aufgebaut. Mit ihr wird es erstmals möglich, mehrere Datenquellen zur religiösen Zugehörigkeit miteinander zu vergleichen.  

Prof. Dr. Antonius Liedhegener (links) und Anastas Odermatt, BA.

Religion und Identität sind derzeit breit diskutierte Themen. Die Frage der europäischen Identität ist eine der zentralen Fragen des Kontinents. Eng damit verbunden und dabei sehr umstritten ist die Rolle der Religion in Europa: Wie kann, soll und darf Religion zu einer europäischen Identität beitragen? Wie macht sie es in Politik und Zivilgesellschaft schon heute?

Diese Fragen haben sich auch Forschende der Universität Luzern gestellt, und zwar im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunkts "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa" (REGIE). Voraussetzung für einen sachlich fundierten Umgang mit solchen Fragen zu Religion in Europa ist aber eine gesicherte Kenntnis der Grundlagen. Das heisst, zuerst und vor allem zu wissen, wie sich die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Religionen und Konfessionen in Europa statistisch darstellt.

Zahlen widersprechen sich

Dieser Anspruch nach gesicherten Zahlen war der Ausgangspunkt für das Projekt von Prof.
Antonius Liedhegener und seinem Mitarbeiter Anastas Odermatt. Ursprünglich war es ihre Absicht, diese Grundlagen für das REGIE-Vorhaben anhand einiger klassischer Religionsstatistiken zusammenzutragen. Doch schon nach den ersten Vergleichen mussten die beiden Forscher feststellen, dass die diversen Statistiken zur Religionszugehörigkeit in Europa voneinander abweichen. Insbesondere in Ländern wie Frankreich und Grossbritannien widersprachen sich die in der Fachliteratur verwendeten Daten eklatant. Dieser Erstbefund und der Ehrgeiz, trotz allem eine gesicherte Datengrundlage zu erarbeiten, führten dazu, dass mehr und mehr Datenmaterial gesammelt, gesichtet und miteinander verglichen wurde. Eigene Vergleichsmethoden wurden entwickelt und das gesamte Datenmaterial wurde intensiv auf die spezifische Herkunft untersucht. So entstand ein mehrjähriges Forschungsprojekt, das in der Realisierung der
Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe (SMRE) mündete.

Diese neuartige Metadatenbank versammelt rund 31 statistische Quellen zur Religionszugehörigkeit in Europa und umfasst bis jetzt Daten für 42 europäische Länder, einschliesslich der Türkei. Um alle Daten möglichst gut miteinander vergleichen zu können, wurden einheitliche Kategorien religiöser Zugehörigkeit entsprechend dem religionsgeschichtlichen Kontext Europas definiert. Die Daten wurden zeitlich diversifiziert und den beiden Berichtszeiträumen 2000 (für den Zeitraum 1996–2005) und 2010 (für den Zeitraum 2006–2015) zugeordnet. Diese breite Datenbasis ermöglicht es erstmals, qualitative Schlüsse über die einzelnen Datensätze und ihre Datenqualität zu ziehen. Hierfür wurde eine Methode entwickelt, die alle Datensätze pro Land einem Qualitätstest unterzieht und eine entsprechende Qualitätseinstufung vornimmt. Darüber hinaus kann, falls es die Qualität der Daten zulässt, für jedes Land eine Aussage getroffen werden über die jeweilige Mehrheitsreligion und ihre Grössenordnung. 

Pluralisierung in der Schweiz

Pluralisierungsgrad und religiöse Ausprägung der Länder der SMRE; eigene Darstellung auf Datenbasis SMRE, Kartengrundlage: Omnia 2009.

Die Zahlen der SMRE zeigen, dass für rund sieben Länder Europas, darunter Frankreich, die Niederlande und Grossbritannien, die Datenlage derzeit so widersprüchlich ist, dass man für sie keine gesicherten Aussagen treffen kann. Bei diesen Ländern handelt es sich also um "weisse Flecken" auf der religiösen Landkarte Europas (vgl. die Karte). In fast allen anderen Ländern ist eine einzelne religiöse Tradition dominant, das heisst, es zählen sich jeweils mehr als 60% der Bevölkerung zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Rund drei Viertel der Länder Europas sind von einer christlichen Tradition geprägt. Die Schweiz gehört neben Ungarn, Albanien, Estland und Tschechien zu den wenigen Ländern, die pluralisiert sind: Zur jeweils grössten religiösen Gruppe, das heisst im Fall der Schweiz zur römisch-katholischen Kirche, zählen sich mehr als 35%, aber weniger als 60% der Bevölkerung. 

Im vergangenen Jahr wurden die Methodik der SMRE und die ersten Ergebnisse vor dem Fachpublikum an internationalen Kongressen präsentiert: In Wien am Kongress der Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary European Society" unter dem Titel "Rethinking Europe with(out) Religion", in Krakau am "8th International Colloquium on the Changing Religious Landscape of Europe" und in Liverpool an der "12th Annual Conference of the European Association of the Study of Religions". Die Ergebnisse stiessen auf breites Interesse. Oft wurden methodologische und wissenschaftstheoretische Grundsatzdebatten angeregt: Was wird wie gemessen und verglichen und wie wird in den Sozialwissenschaften mit empirischem Datenmaterial umgegangen? Die Resonanz spornt an, weiter zu forschen.

Interaktive Plattform geplant

In der SMRE wurden möglichst viele Datensätze verwendet, wobei
laufend neue Datensätze hinzukommen und auch in Zukunft weitere integriert werden sollen. So soll es der Scientific Community mittelfristig möglich werden, auf einer interaktiven Internetplattform der SMRE bestehende Datensätze zu kritisieren und neue Daten hinzuzufügen. Mit solch einer Plattform rückt das ursprüngliche Ziel, eine gesicherte Datengrundlage der Religionszugehörigkeit in Europa zu erstellen, in greifbare Nähe. Hierfür sind freilich weitere finanzielle Mittel nötig, die es gegenwärtig zu finden gilt.

 

Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 46, Februar 2014.
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