Warum Glaube so viel Sicherheit geben kann

Für Gläubige ist die Existenz Gottes so sicher wie die Gewissheit, dass sie selber existieren. Dario Affronti, Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie an der Theologischen Fakultät, untersucht in seinem Forschungsaufenthalt an der Universität Leeds, wie diese Gewissheit zustande kommt. Hierbei wird er mit einem Mobilitätsstipendium unterstützt.

Dario Affronti, Doktorand am Lehrstuhl Philosophie an der Theologischen Fakultät

Gott ist letztlich unergründlich, da sind sich viele Theologen und Philosophen einig. Wie können dann aber so viele von ihnen, sowohl in der Vergangenheit als auch heute behaupten, der Glaube sei durch Gewissheit gekennzeichnet? Ist der Glaube mit Zweifeln vereinbar oder nicht? Und was macht den Glauben aus einer kognitiven Perspektive aus?

Dario Affronti, Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie an der Theologischen Fakultät, erklärt geduldig und langsam, um seine philosophische Forschungsfrage so verständlich wie möglich zu machen. Sein Forschungsgegenstand sind die Texte des mittelalterlichen Theologen und Philosophen Thomas von Aquin und des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der im 20. Jahrhundert wirkte.

Widersprüchliche Eigenschaften des Glaubens

Von Aquin war sich sicher: Das Wesen Gottes wird immer rätselhaft bleiben, auch für die gläubigsten Menschen. Obwohl er also einräumt, dass Gott für den Menschen niemals vollständig verständlich sein wird, behauptet er dennoch, dass der Glaube durch Gewissheit gekennzeichnet ist. Der katholische Priester aus dem 13. Jahrhundert wirkte in einer Zeit, in der die Existenz Gottes zur allgemeinen Weltanschauung fast aller Menschen gehörte; seine Texte sind aber nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt nicht nur für Theologen und Philosophen, sondern auch für alle, die sich für Religion interessieren.

Affronti ist der Ansicht, dass der Glaube aus kognitiver Sicht – also aus der Sicht, wie wir wahrnehmen und denken – einen widersprüchlichen Charakter hat. Einerseits ist der Glaube eine Form des Vertrauens, und Vertrauen beinhaltet von Natur aus die Verletzlichkeit desjenigen, der vertraut. Diese Anfälligkeit könnte uns zu der Annahme verleiten, dass sich niemand des Glaubens und der Religion völlig sicher sein kann, weil es keine endgültigen Beweise, Experimente oder etablierten rationalen Verfahren gibt, um ihre Wahrheit zu überprüfen. Gleichzeitig haben religiöse Überzeugungen jedoch einen grossen Einfluss auf das Leben derer, die sie vertreten. Sie leiten ihre Lebensentscheidungen und Verpflichtungen und prägen ihre Weltanschauung. In vielerlei Hinsicht weisen religiöse Überzeugungen Eigenschaften auf, die eher typisch für Gewissheiten sind.

«Diesen Widerspruch versuchte von Aquin in seiner Theorie des Glaubens zu berücksichtigen, aber die Einzelheiten seiner Ideen sind nach wie vor sehr umstritten», so Affronti. «Wie kann Thomas von Aquin behaupten, dass Gläubige die wahre Natur Gottes niemals vollständig erfassen können, und dennoch den Glauben als sicher bezeichnen? Was bedeutet es in diesem Zusammenhang wirklich, sich einer Sache sicher zu sein?»

Forschungslücken mit Wittgenstein und Mobility Grant schliessen

Diese Lücke in von Aquins Texten will der junge Philosoph, der zunächst in Lugano und dann in Luzern studierte, schliessen. Strahlend erzählt er davon, wie die Graduate Academy der Universität Luzern ihm einen Aufenthalt an der britischen Universität Leeds ermöglicht. Sein Antrag auf eine der UniLu Doc.Mobility Grant wurde angenommen, nicht zuletzt, wie Affronti betont, durch die grosse Unterstützung der Graduate Academy, die seinen Antrag betreut hat. Ab diesem Herbst kann er nun acht Monate in England forschen.

In Leeds lehrt mit Prof. Simon Lewitt ein Experte für den Philosophen Ludwig Wittgenstein. Letzterer war einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts und hat in den 40er und 50er-Jahren viel Zeit damit verbracht, über das Wesen von Gewissheit und Zweifel nachzudenken. Das Projekt von Dario Affronti zielt darauf ab, den Dialog zwischen dem mittelalterlichen Theologen von Aquin und dem österreichischen Philosophen aus dem 20. Jahrhundert zu erforschen, da er glaubt, dass dieser Dialog die kognitive Natur des Glaubens und die Bedeutung von «Gewissheit» im Bereich der Religion beleuchten könnte.

Wittgensteins komplexe Theorie der Gewissheit verständlich machen

Affronti erklärt: «Wittgenstein erforschte die Gewissheit, indem er zunächst untersuchte, wie wir das Wort im Alltag verwenden: Wenn wir sagen, dass wir uns einer Sache sicher sind, bedeutet das in der Regel, dass wir vollkommen zuversichtlich sind und eine Menge Beweise oder gute Gründe haben, die das bestätigen.» Ein Beispiel dafür wäre: «Ich bin mir sicher, dass der Zug um 21 Uhr abfährt, weil ich es in meiner App nachgesehen habe.»

Wittgenstein interessierte sich daneben aber besonders für jene Gewissheiten, die scheinbar überhaupt nicht auf Beweisen beruhen - Dinge, die im Alltag nicht mit Beweisen oder Gründen belegt werden. Das sind Aussagen wie «Die Welt existierte lange vor meiner Geburt», «Ich habe Hände» oder «Menschen verschwinden nicht einfach, sobald ich den Raum verlasse». Das sind keine Dinge, über die wir jeden Tag diskutieren, und wir glauben sie auch nicht aufgrund von Beweisen. Stattdessen tun wir einfach so, als ob sie wahr wären, ohne sie zu hinterfragen. Wir vertrauen diesen Gewissheiten zutiefst, weil sie so sehr in unser tägliches Handeln eingewoben sind. Durch diese Handlungen, so Wittgenstein, stärken wir diese Gewissheiten. Dabei war er überzeugt, dass das, was wir für sicher halten, in vielen Fällen davon abhängt, wie wir uns verhalten, was wir tun und welche Art von «Leben» unsere Gemeinschaft lebt und schätzt.

Bedeutung des Glaubens in Zeiten der Polarisierung

Dario Affronti erklärt seine Forschung verständlich, was beim Reden über Wittgenstein gar nicht selbstverständlich ist. Dieser sei bekannt dafür, sehr komplex und dicht geschrieben zu haben, erzählt er. Umso mehr sei er dankbar, dass er das vierte und letzte Kapitel seiner Dissertation unter der Betreuung eines versierten englischen Experten schreiben kann. Mit Wittgensteins Erkenntnissen über Gewissheit und Zweifel hofft Affronti, die Logik hinter Thomas von Aquins Ideen über Glauben und Gewissheit zu ergründen.

Er glaubt, dass die Untersuchung der kognitiven Aspekte von Glaube, Gewissheit und Zweifel nicht nur für akademische Diskussionen von Bedeutung sein kann. Das Interesse an Religionen in der Wissenschaft steigt, sagt Affronti. Und auch wenn die grossen Kirchen in Europa im Moment Mitglieder verlieren, vermindert das nicht das Interesse der Menschen, ihrem Leben mit spirituellen Angeboten Sinn zu geben. Angesichts dessen sei es wichtig, die kognitive Natur des Glaubens zu verstehen: «Dies kann auch dazu beitragen, sich vor dem Missbrauch des Glaubens durch Propagandisten in aller Welt zu schützen, die die Religion oft als Instrument der Manipulation und Demagogie einsetzen.»

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