Neuberufen: Gleb J. Albert im Gespräch

Seit hundert Tagen ist Gleb J. Albert Assistenzprofessor für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte. Im Interview berichtet er, wie er seinen Start in Luzern erlebt hat und was ihn in Forschung und Lehre beschäftigt.

Gleb J. Albert

Gleb J. Albert: Wie haben Sie sich an der Universität Luzern eingelebt?

Gleb J. Albert: Wunderbar. Die überschaubaren, fast schon familiären, aber zugleich sehr effizienten Strukturen der Universität Luzern machen einem das Einleben leicht. Es ist schön, wieder an einer Universität zu sein, wo das akademische Leben in einem Gebäude gebündelt und nicht auf einen ganzen Stadtteil verteilt ist. Auch ist es eine Freude, mit den neuen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, und die Studierenden sind enthusiastisch und wissbegierig. Nicht zuletzt gehört die Mensa zu den besten, die ich kenne.

Was ist Ihr bisheriges Highlight?

Es ist schwer, aus den vielen Eindrücken der letzten Monate die stärksten herauszupicken. Insgesamt ist es sicherlich die grosse Kollegialität unter den Mitgliedern des Historischen Seminars und der Fakultät. Das Gefühl, dass alle am selben Strang ziehen, um Lehre und Forschung noch besser zu gestalten, ist sehr aufbauend und motivierend.

Woran forschen Sie momentan?

Zum einen steht die Fertigstellung meiner Habilitation im Vordergrund – eine transnationale Geschichte jugendlicher Softwarepiraten in den 1980er- und frühen 1990er Jahren. Zum anderen bin ich dabei, mein aktuelles Forschungsprojekt ins Rollen zu bringen und dafür ein gutes Team zu rekrutieren. Es geht dabei um den Microcomputer als zentrales Medium der doppelten Transformation der 1980er und 1990er Jahre – der ökonomischen und sozialen, «neoliberalen» Transformation in Westeuropa und der politischen in Osteuropa. Der Computer in Privathand ist ein ergiebiges Prisma, um diesen Wandel über die Blockgrenzen hinweg zu erforschen. Mein eigenes Teilprojekt dreht sich dabei um verschiedene Modi unternehmerischen Handelns mit und am Microcomputer. Einige Überlegungen und erste Ergebnisse werde ich am 12. Dezember im Kolloquium des Historischen Seminars vorstellen.

Dieses Semester führen Sie ein Hauptseminar und eine Übung durch. Worum geht es?

Das Hauptseminar «Imperium und Ethnizität vom Zarenreich zum postsowjetischen Raum» ist aus der aktuellen internationalen Lage entstanden. Das Zarenreich als Imperium, das russische Verständnis von Ethnizität und das Verhältnis des Staates zu nationalen Minderheiten, die verschlungenen Pfade der sowjetischen Nationalitätenpolitik und schliesslich die Rolle nationaler Bewegungen bei der Implosion der Sowjetunion – all das hilft, die aktuellen Auseinandersetzungen im postsowjetischen Raum, allen voran den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, zu kontextualisieren und besser zu verstehen. Der Zuspruch und das Interesse der Studierenden war bislang enorm. Die Übung «Was tun mit Wikipedia? Die freie Enzyklopädie und die Geschichtswissenschaft» adressiert ebenfalls ein aktuelles Problem, allerdings aus dem akademischen Raum. Einerseits haftet der Wikipedia an den Universitäten der Ruf einer unseriösen, «unzitierbaren» Ressource an. Andererseits gibt es kaum jemanden, Professorinnen und Professoren eingeschlossen, der die freie Enzyklopädie nicht zumindest sporadisch nutzt. In dieser Übung verbinden wir Theorie und Praxis, indem wir einerseits Wikipedia in der Geschichte der Enzyklopädien und des enzyklopädischen Denkens verorten, und andererseits erkunden, wie Wikipedia funktioniert, was ihre explizten und impliziten Regeln sind und wer daran eigentlich mitschreibt. Am Ende sollen die Studierenden einen eigenen Wikipedia-Artikel zu einem historischen Thema schreiben, ihn in die Enzyklopädie einspeisen und beobachten, was damit passiert. 

Und was steht in Zukunft an?

Neben der Fertigstellung der Habilitation steht das neue Forschungsprojekt im Vordergrund. Zwei Doktorierende, deren Rekrutierungsprozess vor dem Abschluss steht, werden ihre Arbeit aufnehmen. Archiv- und Konferenzreisen werden geplant, digitale und analoge Quellen werden gesichtet und Zeitzeuginnen und -zeugen ausfindig gemacht, ein eigener kleiner Projektworkshop in Luzern steht 2025 an. Daneben bin ich mit Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland und Österreich dabei, die Jahrestagung 2024 der «Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen» (ITH) auszurichten (unter dem Motto «Worlds of Digital Labour»), wo es um die Geschichte der Arbeitsbeziehungen und Arbeitskämpfe in der IT- und Computerbranche gehen wird. Mit der Lehre wird es weiterhin zweigleisig weitergehen: einerseits mit osteuropäischer Geschichte, andererseits mit der Geschichte der Computerisierung. Im kommenden Frühjahrssemester werde ich zwei Seminare anbieten, eines zur Wirkungs- und Wahrnehmungsgeschichte des Stalinismus in der europäischen Öffentlichkeit, und eines zur Geschichte computervermittelter Kommunikation in den 1980er- und 1990er-Jahren.

Frühere Newsmeldung zur Einwerbung von Gleb J. Alberts «Starting Grant»