Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Verena Lenzen

In ihrer «Ultima Lectio» gab Verena Lenzen, inzwischen emeritierte Professorin für Judaistik und Theologie / Christlich-Jüdisches Gespräch, Einblicke in die Welt des osteuropäischen Judentums – über 120 Personen nahmen daran teil.

Professorin Verena Lenzen beim Halten ihrer Vorlesung

Nicht nur Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kirche und Judentum sowie ehemalige Mitarbeitende und Studierende waren am 22. September vor Ort im Hörsaal 1 an der Universität Luzern zugegen. Auch schalteten sich zahlreiche Gäste von Ohio (USA) bis Jerusalem via «Zoom» zu, um die Abschiedsvorlesung online zu verfolgen. Umrahmt war der Anlass mit Musik von George Perlman, Ernst Bloch und Georg Kreisler unter der Leitung von Laura Chmelevsky. Die Begrüssungsworte hielten der Dekan der Theologischen Fakultät, Prof. Dr. Robert Vorholt, und Rabbiner Dr. Jehoschua Ahrens vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG).

Der Vortrag von Verena Lenzen, die 21 Jahre in Luzern als Professorin gewirkt hatte und Ende Juli emeritiert worden war, galt der Geschichte der weithin zerstörten Welt des osteuropäischen Judentums. Damit wurde eine Region in den Fokus gestellt, die heute von aussen häufig nur als Kriegsschauplatz wahrgenommen wird. Lenzen, die auch das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) geleitet hatte, zeigte die schöpferische Kulturkraft auf, die im Ostjudentum beheimatet war und bis heute weiterlebt.

Die vergangene Welt des Ostjudentums

Die Stadt Lemberg setzte Verena Lenzen an den Anfang ihrer Abschiedsvorlesung, um das Auditorium mit dem osteuropäischen Judentum und dem schwer zu fassenden Phänomen des Chassidismus, einer jüdischen Frömmigkeitsbewegung, vertraut zu machen. Lemberg, die einstige kosmopolitische Metropole, heute Lwiw (Ukraine), bildete einst eines der grössten jüdischen Zentren in Osteuropa; der Chassidismus gehörte dort zum Stadtbild, ehe diese Welt mit dem Zweiten Weltkrieg unterging.

Mit Joseph Roths Essay «Juden auf Wanderschaft» (1927) wies Lenzen darauf hin, dass ein Schwarz-Weiss-Denken mit vorgefertigten Stereotypen von Ost- und Westjuden nur oberflächlich ist, denn die Migrationsgeschichte mit einer «hierarchisch konstruierten Geografie» lasse sich nicht halten, zu sehr sei die Geschichte von Westjuden, die Wurzeln im Osten hatten, und Ostjuden, die einst aus dem Westen kamen, miteinander verflochten. Subtil schnitt Lenzen damit die Thematik an, an welche Herkunftsgeschichte sich Menschen erinnern wollen und was sie bereits verdrängt oder vergessen haben.

Die jüdische Schtetl-Kultur

Neben dem Schriftsteller Joseph Roth wurden Arnold Zweig und der Maler Hermann Struck vorgestellt, die nicht nur das ostjüdische Erbe positiv bewahrten, sondern sich auf ihre ganz eigene Weise zur Kritik gegenüber dem Westjudentum aufschwangen. Besonders die Schtetl-Kultur, durch Manès Sperber beschrieben oder von Marc Chagall gemalt, spiegelt diese Lebenswelt wider. Verena Lenzen fasste zusammen, dass die Schtetl-Bewohnerinnen und -Bewohner «von einera unerschütterlichen Würde und Glaubenstreue […] und durch ein Dasein in Armut, aber nicht in Armseligkeit [geprägt waren]. Was am osteuropäischen Judentum faszinierte, war das Authentische, das sich jeder Assimilation verweigerte.»

Osteuropäisches Judentum lebt weiter

Lenzen hob vor allem Martin Buber hervor, der nach der Trennung seiner Eltern in Lemberg bei seinem Grossvater aufwuchs. Mit seiner berühmten Sammlung «Die Erzählungen der Chassidim» (deutsch 1949) gelang Buber der Brückenschlag, die chassidische Welt im deutschsprachigen Kulturraum breit bekannt zu machen. Lenzen zitierte Buber, der sagte: «Eines der chassidischen Grundworte ist dieses: mehr lieben.» Dabei erwähnte sie Schalom Ben-Chorin, der 1934, damals noch unter dem Namen Fritz Rosenthal, publizierte und in seinem Gedichtzyklus «Der Rabbi von Nazareth» Jesus in die Reihe der grossen Gestalten des Chassidismus stellte. Mit Blick auf den Judaisten und Mystikforscher Gershom Scholem zeigte Lenzen gleichzeitig den wohl schärfsten Kritiker Bubers auf, der seiner Ansicht nach den Chassidismus verfäschte. Dies, weil Buber diesen nicht historisch analysierte, sondern, wie Lenzen ausformulierte, diesen «als geistiges Phänomen in seinem narrativen und mystischen Wesen und in seiner vitalisierenden Wirkung wahr[nahm]».

Jehuda Bacon: «kein Hass»

Lenzen veranschaulichte auf unterschiedliche Weise, wie auf kultureller, religiöser und politischer Ebene der Chassidismus weiterlebt, ob in «der jüdischen und jiddischen Literatur in Israel oder Amerika, in der Chabad-Bewegung oder in der Zionismus-Debatte […]». Gegen Ende ihrer Vorlesung stellte sie den israelischen Maler Jehuda Bacon vor, dem sie im Namen der Mount Zion Foundation im Mai 2022 in Jerusalem eine Ehrenauszeichnung für dessen Lebenswerk überreicht hatte.

Bacon war 1929 in eine chassidische Familie in der damaligen Tschechoslowakei geboren worden. Die Nationalsozialisten deportierten ihn ins Ghetto Theresienstadt, danach brachte man ihn ins Konzentrationslager Auschwitz, Mauthausen und dessen Nebenlager Gunskirchen. Er überlebte alle diese Orte des Grauens. Verena Lenzen zeigte die Verbindungslinien von Bacon zum Chassidismus auf und hielt fest, dass neben seiner Kunst, die zu seinem Überleben beitrug, es seine «chassidische Erziehung, sein unerschütterlicher Gottesglaube und seine Nächstenliebe» waren, die dazu führten, dass Bacon am Ende seines Lebens «keine Bitterkeit, kein Hass, keine Rachegefühle» in sich trägt. 

Inneruniversitäre Brückenbauerin

Professorin Lenzen blickt stolz auf die Judaistik in Luzern zurück als ersten Ort in der Schweiz, an dem das Fach 1971 erstmalig universitär verankert wurde – im vergangenen Jahr hatte aufgrund des Jubiläums ein Festvortrag von Kurt Kardinal Koch stattgefunden. Heute ist die Judaistik juridisch integriert, sowohl an der Theologischen als auch an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Die kulturwissenschaftliche Öffnung des Faches ging auf Lenzens Initiative zurück. Dank der Daniel Gablinger-Stiftung gelang es ihr zudem, internationale Gastprofessuren, unter anderem das renommierte Forscher-Ehepaar Aleida und Jan Assmann, nach Luzern zu holen: eine Bereicherung für die ganze Innerschweiz. Bevor sich Verena Lenzen besonders bei den Studierenden bedankte, hielt sie mahnend fest: «Wo immer sich heute Tendenzen abzeichnen – in einer Zeit wachsenden Antisemitismus, das Fach Judaistik einzuschränken oder abzuschaffen, muss man sich mit der Frage eines wissenschaftlichen Antijudaismus konfrontiert sehen.»   

Worte des Dankes

Am Ende der Abschiedsvorlesung folgte ein kräftiger und lang andauernder Applaus für Verena Lenzen. Dr. Simon Erlanger, Lehr- und Forschungsbeauftragter am IJCF, und Dekan Vorholt hielten Worte des Dankes. Bevor der Apéro begann, sang Robert Braunschweig, unterstützt am Klavier von Tommaso Carlini, ein Abschiedslied von Georg Kreisler.

Martin Steiner, Administrativer Geschäftsführer ad interim (IJCF)