«Mein besonderes Interesse galt immer der dunklen Seite der Moderne»

Am 23. Mai hält Prof. Dr. Aram Mattioli seine Abschiedsvorlesung an der Universität Luzern. Ein Gespräch über den Zusammenhang zwischen Umweltbewegung und Kaltem Krieg, unkonventioneller Karriereplanung und Pink Floyd.

Prof. Dr. Aram Mattioli, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Neueste Zeit

Aram Mattioli, der Titel Ihrer Abschlussvorlesung lautet «Dr. Seltsam in der Arktis oder wie die Umweltbewegung in den USA laufen lernte». Wer ist Doktor Seltsam?

Aram Mattioli: Dieser Titel ist eine Anspielung auf Stanley Kubricks brillante Filmsatire «Dr. Strangelove» aus dem Jahre 1964 mit dem deutschen Titel «Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben». Der Film handelt vom Irrwitz des nuklearen Rüstungswettlaufs im frühen Kalten Krieg und der sehr realen Gefahr der atomaren Auslöschung der Welt. Seit Langem gibt es eine intensive Diskussion darüber, wer dieser «Dr. Strangelove» ist. Kubrick selbst hat dies stets offengelassen, aber drei Ausnahmewissenschaftler wurden als Anwärter immer wieder genannt. Ausgehend von einer dieser drei Figuren werde ich den nuklearen Kolonialismus der USA und seine Auswirkung auf die Iñupiat im Nordwesten von Alaska beleuchten und zu zeigen versuchen, warum ihr erstaunlicher Widerstand die Geburtsstunde der modernen Umweltbewegung in den USA bildete.

Woher rührt Ihr Interesse an der Geschichte der Indigenen in den USA? Ursprünglich setzten Sie sich in Ihrer Forschung vor allem mit Antisemitismus, Intoleranz und Faschismus auseinander.

Mein besonderes Interesse galt immer den dunklen Seiten der Moderne und den Menschen, die im Räderwerk der modernen Gewaltgeschichte zermalmt wurden. Zu Beginn waren das in meiner Forschung Jüdinnen und Juden, später dann die Menschen im Kaiserreichreich Äthiopien, die von 1935 bis 1941 unter der Aggression und Gewaltherrschaft des faschistischen Italiens litten. Von diesem Grundinteresse aus gesehen, war der Sprung zu den First Peoples in Nordamerika, die seit 1530 ebenfalls eine blutige Verdrängung, Kolonisierung und Zwangsassimilation durch weisse Siedler erlitten, gar nicht so gross.

Und warum dieses Interesse an der «dunklen Seite» der modernen Welt?

Das hat sicherlich damit zu tun, dass während meines Studiums in den 1980er-Jahren der Weltenbrand des Zweiten Weltkrieges noch enorm präsent war. Mich hat dabei besonders die Frage beschäftigt, wie in Deutschland eine so radikale Bewegung wie der Nationalsozialismus an die Macht kommen konnte, der dann innerhalb weniger Jahre in einem beispiellosen Rassenwahn Millionen von Menschen systematisch vernichtete.

Was waren denn die «hellen Seiten» Ihres Studiums? Woran erinnern Sie sich besonders gerne?

Die besten Erinnerungen habe ich an die alte Humboldt-Universität. Die weitgehende Freiheit beim selbstbestimmten und suchenden Studieren war das Schönste für mich. Damit verknüpft war die Haltung der Dozierenden, dass Studieren Bildung bedeutete und nicht Ausbildung. So konnte ich sehr viel lesen, auch Texte, die nicht eng mit der jeweiligen Lehrveranstaltung verknüpft waren. Die Freiheit des Lesens war für mich auch immer eine Freiheit des Entdeckens und des Eintauchens in fremde Welten.

Wann war für Sie klar, dass sie an der Universität bleiben und eine akademische Karriere einschlagen möchten?

Das war nicht geplant, ich bin immer Schritt für Schritt vorwärtsgegangen. Ich habe aber auch zu einer Zeit studiert, in der fast alle promovieren wollten, denn es gab viele interessante Projekte, in die viele einsteigen konnten.

Haben Sie einen Tipp für junge Menschen, die eine universitäre Karriere einschlagen wollen?

Das Bestmögliche aus dem herauszuholen, an dem man im Moment arbeitet. Ich rate eher davon ab, bereits mit 26 oder 27 Jahren zu entscheiden, ob man eine Unilaufbahn einschlagen will oder nicht – es kommt sowieso anders, als man denkt.

Und wenn wir jetzt noch ein bisschen weiter zurückgehen: Welchen Berufswunsch hatten Sie als Kind?

Ich wollte Archäologe werden. Als Kind wohnte ich in Möhlin, einem Dorf, in dem sich Ruinen einer alten römischen Grenzbefestigung befinden, die ich oft aufsuchte. Ich erinnere mich gut an meinen ersten Ausflug ohne Eltern, etwa in der zweiten Primarklasse: Gemeinsam mit einem Schulfreund reiste ich mit dem Zug nach Kaiseraugst, wo es mit Augusta Raurica eine grosse römische Ruinenstadt zu sehen gab.

Als Professor haben Sie zahlreiche populäre Filmseminare durchgeführt, was sich auch in Ihrer Abschiedsvorlesung widerspiegelt. Stimmt es, dass auch die Musik zu Ihren Leidenschaften gehört?

Ja, ich bin ein Rockmusik-Fan, vor allem des Progressive Rock, der musikalisch viel experimentierte. Müsste ich eine Lieblingsband nennen, wäre es Pink Floyd. Für mich ist die Komplexität ihrer Musik eine Form moderner Klassik. Hätte ich an der Abschiedsvorlesung mehr Zeit, würde ich zum Schluss sehr gerne «Echoes» von Pink Floyd laufen lassen. Doch die fantastische Komposition dauert mehr als 23 Minuten …

Haben Sie nie überlegt, ein Buch über Rockmusik zu schreiben?

Doch, ich habe es mir eine Zeit lang überlegt. Es gab aber Leute, die das bereits hervorragend gemacht haben. Ich liess es dann sein, weil mich viele andere Dinge auch interessierten. Eine meiner ersten Bachelorarbeiten aber, die ich in Luzern betreute, behandelte das berüchtigte Rolling-Stones-Konzert von 1967 in Zürich, nach dem es zu Ausschreitungen kam. So spielten die Populärmusik und ihre soziokulturelle Bedeutung auch in meiner Lehrtätigkeit hin und wieder eine Rolle.

Spannen wir den Bogen damit zurück zu Ihrer Abschlussvorlesung: War es schwierig für Sie, sich auf ein Thema festzulegen?

Nein, überhaupt nicht. Für mich war jedoch klar, dass ich nichts Altes aus meiner Forschungskiste auspacken wollte. Stattdessen reizt es mich weit mehr, gerade bei dieser Gelegenheit erste Ideen für ein neues Buchprojekt zu skizzieren. Neben der bereits erwähnten Nuklearpolitik der USA und ihrer Auswirkungen auf indigene Völker wird es Einblicke in die frühe Geschichte des Kalten Kriegs geben – mit neuen Perspektivierungen und einer hoffentlich innovativen Richtungsanzeige. Ausserdem werde ich zwei Filmclips in die Abschiedsvorlesung einbauen und zum Schluss eine Rockballade abspielen, wie ich das in meinen Lehrveranstaltungen hin und wieder gemacht habe – ein «typischer Mattioli» eben.

Mehr Informationen zur Abschiedsvorlesung von Prof. Dr. Aram Mattioli am Donnerstag, 23. Mai 2024

Zur Person

Aram Mattioli wurde am 21. Januar 1961 in Zürich geboren. Er studierte Geschichte und Philosophie und promovierte 1993 an der Universität Basel. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören die Histoire intellectuelle der Schweiz, die Antisemitismus-Geschichte, das faschistische Italien, die Geschichte der Indigenen Nordamerikas und die globale Umweltgeschichte. Prof. Dr. Aram Mattioli prägte das Historische Seminar Luzern stark. Er amtete als ordentlicher Professor, als Seminarleiter und als Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät.

Das Interview mit Prof. Dr. Aram Mattioli führte Corinne Huwyler, Masterstudentin in Geschichte und Politikwissenschaft.