"Können wir getrennt überhaupt Kirche sein?"

Wie steht es um die ökumenische Verbundenheit – und dies über Gedenkveranstaltungen hinaus? Mit dieser Frage beschäftigte sich Gottfried Wilhelm Locher, Referent der diesjährigen Otto-Karrer-Vorlesung. Als Basis für seine Reflexionen nahm er ein umstrittenes Dokument zur Hand.

Die vielen Veranstaltungen zum 500-Jahr-Gedenken an die Reformation sind noch gut präsent, da tritt der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK, Gottfried Wilhelm Locher, in der Jesuitenkirche Luzern als Redner der Otto-Karrer-Vorlesung der Theologischen Fakultät auf. Locher steht vor einem Publikum, dem Ökumene eine Herzensangelegenheit ist. Als Grundlage seines Referats vom 15. März nimmt er, ausgerechnet, das Dokument "Dominus Iesus", welches Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., im Jahr 2000 als Vorsteher der Glaubenskongregation des Vatikans verfasste.

Nur eine Kirche Jesu Christi

Es handelt sich dabei um ein Schreiben, das zu heftigen Debatten inner- und ausserhalb der Kirche führte. Hier wird knapp und deutlich festgehalten, dass in anderen Religionen zwar Wahres und Heiliges zu finden sei, die ganze Fülle göttlicher Wahrheit aber nur in Jesus Christus offenbart worden sei. Und, was in der Ökumene zu grossen Verwerfungen geführt hatte, dass es nur eine Kirche Jesu Christi geben kann und diese in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht worden ist. Das konnte die Reformierten nicht kalt lassen.

Warum aber das Ganze gerade jetzt wieder aufs Tapet bringen? Gottfried Locher, der nebst dem SEK auch als geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE vorsteht, nahm sich vielleicht gerade wegen der vielen Feierlichkeiten letztes Jahr diesen in der Ökumene harten Brocken vor. Für den SEK-Präsidenten, der, wie er sagte, vom Theologen Ratzinger sehr viel gelernt habe, geht es darum, die Debatte um das Dokument wieder aufzunehmen. Deshalb wohl auch der eigenwillige Vortragstitel "Dominus Iesus reloaded. Skizzen einer versöhnlichen Ekklesiologie". Dem SEK-Präsidenten geht es darum, die Diskussion im Sinn des englischen Begriffs neu aufzuladen, statt einer "Vogel-Strauss-Ökumene" darüber hinweg zu schauen.

Ökumene als Daueraufgabe

Natürlich schmerze es ihn, so der Referent, wenn in "Dominus Iesus" den Reformierten zwar der Status als kirchliche Gemeinschaft zuerkannt, das Verständnis Kirche aber abgesprochen werde. Und hier setzte Locher gleich selber mit neuer Ladung an verwies auf den ersten Satz des Dokuments: Jesus habe seinen Jüngern den Auftrag gegeben, der ganzen Welt das Evangelium zu verkünden. Nun hält er umgekehrt auch der katholischen Kirche den Spiegel vor und fragt, ganz Ökumeniker, ob diesem Auftrag denn in den christlichen Kirchen genug Rechnung getan werde.

Wenn die katholische Kirche den reformierten Christen schon die Existenz als "Kirche" abspreche, dann, so Locher, gehe es darum danach zu suchen, was denn dafür fehle. Dies sieht er aber nicht allein als Aufgabe der Reformierten, sondern aller christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Denn in der heutigen Zeit sähen sich die christlichen Konfessionen mit ihrem gleichen Auftrag vor die gleichen Herausforderungen gestellt: Es gelinge immer weniger, Menschen für Glaubensfragen anzusprechen. Ökumene sei denn auch eine Daueraufgabe der Kirchen. Der Referent fasste das in der prägnanten Frage zusammen: "Können wir getrennt überhaupt Kirche, können wir kirchlich sein?"

Glaubwürdigkeit durch theologischen Streit

Gottfried Locher stellte an der Otto-Karrer-Vorlesung nach den vielen versöhnlichen Worten zwischen Kirchenvertretern im vergangenen Jahr mit "Dominus Iesus" ein für die Ökumene kantiges Dokument ins Zentrum. Er sieht die Auseinandersetzung damit auch als ökumenischen "Reality Check", als Prüfung dafür, wie weit es mit ökumenischer Verbundenheit über Gedenkveranstaltungen hinaus her ist. Und so lud er zu einem "Reload" der Auseinandersetzung über das Dokument. Denn, so der SEK-Präsident, man dürfe die Differenzen von damals nicht beiseitelassen. Mehr noch: Für eine glaubwürdige Kirche brauche es theologischen Streit.

Martin Spilker ist freier Journalist.