Im Spannungsfeld von Recht und Religion

Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche haben die Frage nach dem Verhältnis zwischen kirchlichem und säkularem Recht neu aufgeworfen. Ein durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördertes Projekt an der Theologischen Fakultät untersucht mögliche Abwägungen zwischen den verschiedenen Rechtssystemen.

Statue der Justizia
(Symbolbild; ©istock.com/ER09)

Eine der wichtigsten Fragen, die sich heutzutage in Bezug auf die Religionsfreiheit stellt, ist der Umgang mit den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche. Dieser wird insbesondere durch das Fehlen von institutioneller Haftbarkeit für religiöse Organisationen – mit Verweis auf die kirchliche Selbstbestimmung – erschwert. Auch in den USA, wo bis heute die meisten Klagen wegen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker erhoben wurden, ist dieser Grundsatz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts Teil des Verfassungsrechts.

Notwendige Abwägung

Mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht in den USA und damit, wie es im Falle von sexuellem Missbrauch durch Kleriker angewendet werden kann, befasst sich ein Forschungsprojekt am Zentrum für Religionsverfassungsrecht (ZRV) der Theologischen und Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage nach der Ausbalancierung zwischen den kollektiven Rechten der Religionsgemeinschaften, der Menschenrechte des Einzelnen und des säkularen, also ‹weltlichen› Rechts. Ziel des Projekts ist es, eine umsetzbare Abwägung vorzuschlagen, welche die Autonomie der religiösen Institutionen respektiert und gleichzeitig individuelle Rechte schützt. Eine solche Abwägung ist unabdingbar, wenn religiöse Institutionen vom Staat – das heisst von einer unabhängigen, externen Autorität – zur Rechenschaft gezogen werden sollen.

Präskriptives Vorgehen

Um die aufkommende Spannung zwischen Religionsfreiheit und säkularem Recht zu bewältigen, bedarf es sowohl verfassungs- als auch religionsrechtlicher Initiativen. Das Forschungsteam um Prof. Dr. Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, geht im Projekt deshalb nicht nur deskriptiv und erklärend, sondern auch präskriptiv vor. Das heisst, es wird nicht nur aufgezeigen, wie zwischen den verschiedenen Rechtssystemen abgewägt werden kann, sondern auch, wie abgewägt werden soll. Gleichzeitig soll das Projekt nicht nur Lösungsansätze für den konkreten Fall des katholischen Missbrauchsskandals liefern, sondern auch dafür, wie Rechtsordnungen allgemein ein Gleichgewicht zwischen den strukturellen Rechten religiöser Institutionen, den Menschenrechten und der Anwendung des säkularen Rechts herstellen können.

Zum Auftakt des Forschungsprojektes werden im Frühjahrssemester 2022 zwei Eröffnungsveranstaltungen mit einem Podiumsgespräch und diversen Vorträgen stattfinden. Mehr Informationen

  • Originaltitel des Projekts und Übertragung ins Deutsche: «Church Autonomy and the Catholic Church Sex Abuse Cases» («Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche und die Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche»)
  • Leitung: Prof. Dr. Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht
  • Projektbeteiligte und Mitarbeitende: Zalman Rothschild, Postdoktorand am Zentrum für Religionsverfassungsrecht (ZRV)
  • Projektdauer: 48 Monate
  • Bewilligte Fördersumme des Schweizerischen Nationalfonds (SNF): CHF 392'000 (gerundet)