Gesundheitswissenschaften: hin zur optimalen Funktionsfähigkeit

Anfang August startet das Departement für Gesundheitswissenschaften und Medizin an der Universität Luzern. Im Interview gibt der Leiter Prof. Dr. Gerold Stucki Einblick in Aufgaben und Ausrichtung.

Die neue Organisationseinheit entsteht durch die Umwandlung des Seminars für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in ein direkt dem Rektor unterstelltes Departement. Dieses setzt sich zusammen aus den drei Fachbereichen Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik, Medizin sowie Rehabilitation (Details siehe Text unterhalb des Interviews). Es wird geführt von Prof. Dr. Gerold Stucki, bisher Leiter des Seminars für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik.

Prof. Dr. Gerold Stucki vor Bücherwand
Gerold Stucki wird das neue Departement leiten

Herr Stucki, Gesundheit ist ein breiter Begriff. Worum geht es in den Gesundheitswissenschaften an der Universität Luzern?

Gerold Stucki: Die Universität Luzern stützt sich auf die neue Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dabei ist der Begriff Funktionsfähigkeit zentral. Dieser umfasst die Gesundheit als Voraussetzung für alle unsere Aktivitäten sowie die Teilhabe in allen Bereichen des Lebens. Die Gesundheitswissenschaften an der Universität Luzern befassen sich mit der Frage, wie die Funktionsfähigkeit der Bevölkerung sowie spezifischer Personengruppen optimiert werden kann. Daraus wiederum ergibt sich die Frage, wie die Schweiz als eine moderne westliche Gesellschaft ihr Gesundheitssystem organisieren soll, um dies zu erreichen.

Welche Ebenen werden dabei betrachtet?

Das reicht von Politik und Gesetzgebung über Leistungserbringung und Finanzierung bis zur klinischen Praxis. Um dies in der ganzen Breite erforschen zu können, ist ein interdisziplinärer Ansatz nötig, wie er durch die Professuren am Departement repräsentiert ist. Wir haben Professuren in Gesundheitswissenschaften- und Gesundheitspolitik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitskommunikation, Gesundheits- und Sozialverhalten und Versorgungsforschung.  Diese interdisziplinäre Organisation der Gesundheitswissenschaften auf der Ebene eines Departementes ist in der Schweiz einzigartig.

Wonach richtet sich diese übergreifende Zusammenarbeit aus?

Grundlage für die Zusammenarbeit ist das eingangs erwähnte umfassende Verständnis von Gesundheit. In Bezug auf die thematische Ausrichtung ist das Departement mit seinem Fokus auf die Rehabilitation schweizweit einzigartig, in Europa wird eine ähnliche Entwicklung an der Universität Bielefeld verfolgt.

Wie positioniert sich das Departement innerhalb der Universität Luzern?

Die Fokussierung auf interdisziplinäre Gesundheitswissenschaften in enger Kooperation mit den klinischen Wissenschaften der Medizin sowie dem Schwerpunkt Rehabilitation passt ausgezeichnet an die Universität Luzern mit ihrer geistes- und sozialwissenschaftlichen Tradition. So ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Kooperation mit den vier Fakultäten, beispielsweise im Rahmen des Center for Rehabilitation in Global Health Systems, an welchem sich Professuren der verschiedenen Fakultäten beteiligen, oder beim Projekt "Swiss Learning Health System".

Wie kommt der Fokus auf die Rehabilitation als Wachstumsbereich im neuen Departement?

Rehabilitation als sozialwissenschaftliche Gesundheitsstrategie ist an den medizinischen Fakultäten der Schweizer Universitäten entweder nicht vertreten oder kein Schwerpunkt. Dies hat zum Teil damit zu tun, dass die Rehabilitation sich historisch nicht an den Universitäten, sondern an dezentralen Rehabilitationskliniken, in aller Regel kaum akademisch, etabliert hat. Dank der engen Zusammenarbeit der Universität Luzern mit der Schweizer Paraplegiker-Forschung als ausseruniversitärer rehabilitativ-tätiger Forschungsinstitution sowie der Nähe beispielsweise zur SUVA ergibt sich für die Universität Luzern auf diesem Gebiet eine Chance zur Profilierung.

Sie arbeiten in diesem Bereich auch mit der WHO zusammen. Worum geht es da genau?

2017 hat die WHO das Programm “Rehabilitation 2030" lanciert. Dies im Hinblick auf einen massiv wachsenden Bedarf für Rehabilitation im Kontext einer alternden Bevölkerung, einer Zunahme von chronischen Krankheiten sowie von Menschen, welche eine Behinderung erfahren. Die Universität Luzern mit ihrem langjährigen Leistungsausweis in rehabilitationswissenschaftlicher Forschung, beispielsweise in der Entwicklung von Standards zur Erfassung der Funktionsfähigkeit, unterstützt die WHO bei der Entwicklung von weltweit zur Verfügung stehenden Referenzmaterialien für Gesundheitsministerien, klinische Leistungserbringer sowie Gesundheitsberufe. Für das Departement ist die Zusammenarbeit mit der WHO ein Glücksfall, da die wissenschaftlichen Entwicklungen in Kooperation mit der WHO direkt Anwendung finden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein aktuelles Beispiel ist die Mitarbeit bei der Konzeption der WHO-Initiative "Make Listening Safe" durch Sara Rubinelli, Professorin für Gesundheitskommunikation, und ihren Mitarbeiter Dr. Nicola Diviani.

Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung eines WHO-Berichts zur Situation von Menschen mit einer Querschnittslähmung in enger Kooperation mit der Schweizer Paraplegiker-Forschung. Dieser Bericht bietet die Grundlage für ein internationales Kooperationsprojekt mit inzwischen mehr als 20 Ländern in allen WHO-Regionen. Im Rahmen dieses Projektes werden länderübergreifend sogenannte Best Practices identifiziert und Empfehlungen für die Entwicklung der Rehabilitation in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen ausgearbeitet.

Welche Schwerpunkte setzen Sie im Fachbereich Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik?

Die grosse Herausforderung ist heute die Diskrepanz zwischen dem was man weiss und dem was im Alltag realisiert wird. Dabei mangelt es sowohl an Implementierungswissenschaft als auch an konkreter Umsetzung. Implementierungsforschung ist entsprechend ein übergeordneter Schwerpunkt des Departementes. Dieser wird im Rahmen des "Swiss Learning Health System", einer nationalen Plattform für Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung, etabliert.

Wie funktioniert dieses "lernende Gesundheitssystem"?

Für das Gesundheitssystem relevante Themen werden identifiziert und priorisiert. Gestützt auf diese Priorisierung wird wissenschaftliche Evidenz zu den Themen zusammengetragen, die in Form von strukturierten Zusammenfassungen, sogenannten Policy Briefs, Handlungsoptionen aufzeigen sollen. Diese werden mit relevanten Stakeholdern aus dem Schweizer Gesundheitssystem in Form von strukturierten Dialogen diskutiert, um das Thema von verschiedenen Standpunkten aus zu beleuchten und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

Gibt es da schon konkrete Umsetzungen?

Ein Beispiel ist das Doktoratsprojekt von Adrian Spiess. Er befasst sich intensiv mit dem Thema Rehabilitation in der Schweiz. Seine Arbeit erfolgt in enger Kooperation mit allen relevanten Stakeholdern und dient unter anderem der Identifizierung von zentralen Herausforderungen in diesem Bereich. Schon früh wurde dabei erkannt, dass die Ausbildung von Medizinstudierenden diesbezüglich ungenügend ist. In der Tat kommt Rehabilitation in der akademischen Ausbildung künftiger Ärzte fast nicht vor. Nur wenn sich dies ändert, beispielsweise im Rahmen des Angebotes des Joint Master Medizin, werden wir in der Schweiz auch in Zukunft Ärzte haben, welche sich für den Bereich der Rehabilitation interessieren.

Im Herbst 2020 werden die ersten Studierenden das Masterstudium in Medizin in Luzern aufnehmen. Wo stehen Sie in der Vorbereitung?

Zentral für die Vorbereitung des Masterstudiums an der Universität Luzern ist der Aufbau des Studienzentrums. Ein Studiengang für Medizin unterscheidet sich deutlich von den an der Universität Luzern sonst etablierten geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen. So müssen beispielsweise Praktika an den Patienten und interaktiver Unterricht mit klinischen Dozierenden an den verschiedenen Standorten der Partnerspitäler organisiert werden.

Als zweites hat die Universität in Zusammenarbeit mit ihren Partnerkliniken nun die Chance, dem Master Medizin ein eigenes Luzerner Profil zu geben. Ein Beispiel ist die für den Flächenkanton Luzern wichtige Grundversorgung durch Hausärzte oder die Rehabilitation als Schwerpunkt des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in Nottwil. Weitere profilbildende Bereiche werden in Abstimmung mit den Partnerkliniken sowie den wissenschaftlichen Programmen des Departementes festgelegt.

Die klinische Ausbildung erfolgt an den Partnerinstitutionen. Welches ist die Rolle der Universität?

Die Universität Luzern ist das akademische Zentrum für die Ausbildung. Dies umfasst den Betrieb des Studienzentrums als direkter Ansprechpartner für Studierende und Dozierende sowie auf akademischer Seite die Karriereentwicklung, beispielsweise von Lehrbeauftragten zu klinischen Dozierenden. Auch haben klinische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Partnerinstitutionen die Möglichkeit, an der Universität Luzern zu habilitieren und eine Titularprofessur zu erlangen. Die an der Universität Luzern habilitierten klinischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in der Zukunft eine wichtige Rolle bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Luzerner Profils des Joint Master Medizin spielen.

Das neue Departement wird Teil eines Netzwerks aus Partnern im Gesundheitsbereich im Kanton Luzern sein. Welchen Stellenwert hat dieses Netzwerk?

Das Seminar für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik hat seit dem Start im Jahr 2009 versucht, die Stärken im Kanton zu nutzen. So wurde die Gründung des Seminars durch die Etablierung einer Professur in Kooperation mit der Schweizer Paraplegiker-Forschung erst ermöglicht. Für den Master in Gesundheitswissenschaften und nunmehr für den Master Medizin wurde kontinuierlich ein Netzwerk von Partnern aufgebaut, deren akademisches Zentrum das Departement für Gesundheitswissenschaften und Medizin an der Universität Luzern ist. Die Zusammenarbeit zwischen den Netzwerkpartnern und der Universität Luzern ist eine win-win Situation. So haben die wissenschaftlich aktiven Partnerinstitutionen Zugang zum gesamten akademischen Förderungsprogramm der Universität Luzern, von Doktorat bis Habilitation. Die Universität Luzern wiederum hat den einzigartigen Vorteil, dass sie ihre Bildungsangebote, aber auch ihre Forschungsprogramme in enger Kooperation mit den Netzwerkpartnern entwickeln kann, womit die Relevanz beider direkt gegeben ist.

Interview: Lukas Portmann

 

Über das Departement

Das neue Departement für Gesundheitswissenschaften und Medizin ist in drei eng kooperierenden Fachbereichen organisiert: Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik, Medizin sowie Rehabilitation.

Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik

Der Fachbereich Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik befasst sich mit der Erforschung von Gesundheit definiert als Funktionsfähigkeit sowie der optimalen Organisation des Gesundheitssystems auf allen Ebenen. In der Ausbildung bietet das Departement einen Master in Gesundheitswissenschaften (MSc Health Sciences), ein Doktorierendenprogramm sowie ein Programm für Post-Docs an. Der Bereich leitet eine interuniversitäre Forschungsplattform, das "Swiss Learning Health System", welche von swissuniversities, der Rektorenkonferenz aller Hochschulen, getragen ist.

Medizin

Der Fachbereich Medizin befasst sich im Rahmen der klinischen Wissenschaften mit Diagnose und Therapie von Krankheiten sowie der optimalen klinischen Leistungserbringung. In der Lehre bietet der Fachbereich den Joint Master Medizin in Kooperation mit der Universität Zürich an. Die Ausbildung erfolgt bei den klinischen Partnern in der Zentralschweiz, welche das Luzerner Kantonsspital (LUKS), die Luzerner Psychiatrie, das Institut für Hausarztmedizin und Community Care, das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) sowie die Hirslanden Klinik St. Anna umfassen. Zudem bietet das Departement in enger Kooperation mit dem Luzerner Kantonsspital den Weiterbildungsstudiengang "CAS Palliative Care" an. Im Bereich der Forschung betreibt der Fachbereich eine Clinical Trial Unit (CTU) in Kooperation mit dem SPZ sowie dem LUKS. Die CTU ist eine wissenschaftliche Plattform mit standardisierten Prozessen zur Durchführung von klinischen Studien gemäss ethischen und wissenschaftlichen Kriterien.

Rehabilitation

Der Fachbereich Rehabilitation befasst sich mit der Frage der optimalen Organisation des Gesundheits-, aber auch des Sozial- und Arbeitssystems mit dem Ziel der Optimierung der Funktionsfähigkeit von Menschen mit einer Krankheit, nach einem Unfall und beim Älterwerden. In diesem Bereich arbeitet das Departement eng mit der Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil, der einzigen ausseruniversitären Forschungsinstitution in der Zentralschweiz, zusammen. Die wissenschaftlichen Aktivitäten des Fachbereichs sind im neuen Center for Rehabilitation in Global Health Systems, welches seit 2019 auch Kooperationszentrum der Weltgesundheitsorganisation ist, koordiniert.