«Die Kirchen sind ein idealer Akteur in einer weltweiten Zivilgemeinschaft»

Seit 2022 ist der evangelisch-lutherische Theologe Heinrich Bedford-Strohm Vorsitzender des Zentralausschusses des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Dem Landesbischof in Bayern ist die Ökumene ein Herzensanliegen. Diese sei gerade in einer Zeit, in der die Kirchen vor grossen Herausforderungen stehen, nötiger denn je.

Als Vorsitzender des ÖRK stehen Sie einem Gremium vor, das 352 Kirchen vertritt. Konnten Sie sich bereits einen Überblick über diese Vielfalt verschaffen?
Heinrich Bedford-Strohm: Bei der Leitung des Zentralausschusses, in dem Delegierte aus aller Welt vertreten sind, bekomme ich viel davon mit, was diese Kirchen ausmacht. Und ich erfahre unmittelbar, was sie bedrückt und was für uns auf Weltebene relevante Fragen sind.  

Und wo drückt der Schuh bei den Mitgliedskirchen am meisten?
Ein zentrales Problem ist die weltweite Ungerechtigkeit. Da sitzen Kirchenvertreter mit am Tisch aus Ländern, in denen Menschen vor Hunger oder wegen einer Dürre sterben. Und fragt man nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit, stellt sich sofort die Frage der Klimagerechtigkeit. Deshalb ist es auch so wichtig, in unseren Gremien so nahe beieinander zu sein. Denn was wir hier an Klimaschäden verursachen, betrifft die Menschen an anderen Orten unmittelbar.

Das hört sich sehr politisch an. Ist die Klimafrage eine vordringliche Aufgabe des Weltkirchenrats oder anders gefragt, müssten nicht pastorale Fragen im Vordergrund stehen?
Die beiden Themen gehören untrennbar zusammen. Und das nicht erst seit den vergangenen Jahren. Der Prophet Amos hat bereits die Frage gestellt, in welchem Verhältnis das Gebet zum Tun des Gerechten steht. Man kann nicht authentisch zu Gott als dem Schöpfer beten und zugleich unberührt bleiben von der Not des Nächsten und dem Ächzen der Schöpfung. Die Politik aus dem Geistlichen auszuschliessen, das sage ich in dieser Härte, steht zutiefst im Widerspruch zu dem, was ich in der Bibel lesen kann.

Nehmen Sie in Kauf, dass eine solche kirchliche Haltung mit der Politik in Konflikt kommt?
Ich mache die Erfahrung, dass mich Menschen aus der Politik sogar ermutigen, mich als Bischof öffentlich zu Herausforderungen der Zeit zu Wort zu melden, auch wenn das manchmal zu kritischen Einsprüchen führt. Die Kirche ist nach wie vor eine öffentliche Institution, die gehört wird. Daher nehme ich Stellung: zugunsten von Menschen, die sich für die Bewahrung der Schöpfung, oder gegen weltweite Ungerechtigkeit einsetzen. Denen gebe ich Rückenwind. Und ich kritisiere politische Gruppierungen, die menschenfeindliche Haltungen zum Programm erheben.

Was verstehen Sie darunter?
Wenn es systematische Unmenschlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus gibt, dann müssen wir als Kirchen Einspruch erheben, weil das unvereinbar ist mit dem Bekenntnis, dass Gott jeden Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. Und wenn wir uns hier nicht zu Wort melden, würden wir auch Position beziehen. Nämlich für die Hinnahme des bestehenden Unrechts.

Welche Möglichkeiten hat der ÖRK, sich in solchen Fragen zu Wort zu melden?
Eine Präzisierung: Ich bevorzuge die Bezeichnung Weltkirchenrat statt ÖRK, so kommt die weltweite Dimension unserer Kirchen zur Geltung. Zur Frage: Der Weltkirchenrat müsste erfunden werden, wenn es ihn nicht schon gäbe. Denn es gibt wohl keine weltweite Verbindung von Gemeinschaften mit einer derart starken lokalen Verbundenheit. Und das gehört zur DNA der Kirche: dass wir lokal verwurzelt sind mit einem weltweiten Horizont, weil wir alle an Gott den Schöpfer der ganzen Welt und an Jesus Christus den Erlöser der ganzen Welt glauben. Diese einzigartige Verbindung macht uns zu einem idealen Akteur einer weltweiten Zivilgesellschaft. Und das ist gerade heute von Bedeutung, weil es auf der Welt kaum ein Problem gibt, das sich lokal lösen lässt. Die Klimafrage ist das stärkste Beispiel dafür.

Sie haben sich an der diesjährigen Otto-Karrer-Vorlesung in Luzern für eine Öffentliche Theologie stark gemacht. Was ist darunter zu verstehen?
Die Kirchen müssen auch in die Öffentlichkeit hineinsprechen. Das ist – zumindest im Westen – schwerer geworden, da die normative Autorität der Kirchen gesunken ist. Zudem ist es in einer an Skandalisierungen orientierten Medienlandschaft schwerer geworden, die Normalität der täglichen guten Arbeit der Kirchen rüberzubringen. Wir müssen plausibilisieren, was wir zu sagen haben. Öffentliche Theologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie über den kirchlichen Horizont hinaus eine Sprache findet, die wahrgenommen und verstanden wird.

Das ist möglich?
Ja. Ich nenne dies Zweisprachigkeit: Wir müssen die biblische Sprache sprechen – dürfen sie auch nicht verstecken –, und wir müssen uns gleichzeitig bemühen, die Einsichten aus diesen biblischen Traditionen für Menschen nachvollziehbar zu machen, selbst wenn sie nicht gläubig sind. Das bedingt aber auch, dass Kirchen mit ihrer Botschaft präsent sind und sich verständlich ausdrücken. Hier spielt heute das Internet eine bedeutende Rolle.

Zur Ökumene. In welchem Verhältnis stehen die im Weltkirchenrat zusammengeschlossenen Kirchen zur römisch-katholischen Kirche?
Das ist je nach nationalem Kontext sehr unterschiedlich. Meine Erfahrungen aus Deutschland haben gezeigt, dass durch ein Ereignis wie das Reformationsjubiläum 2017 grosse Verbindungen entstanden sind. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass wir uns in diesem Jubiläum nicht abgrenzen und andere abwerten, sondern dass wir das tun, worum es Martin Luther gegangen ist: Christus neu entdecken. Martin Luther wollte keine neue Kirche gründen, sondern er wollte, dass die Menschen Christus neu entdecken können. Und heute können wir Christus nur neu entdecken, wenn wir das ökumenisch tun.

Dabei gibt es allerdings scheinbar unüberwindbare Hindernisse.
Ja, es ist in der evangelisch-römisch-katholischen Ökumene nicht immer einfach. Für mich ist es ein Skandal, dass Christen heute am Tisch des Herrn nicht gemeinsam Abendmahl feiern. Damit können wir uns nie zufriedengeben. Wir sind davon noch ziemlich weit entfernt, aber ich werde nie aufhören darauf zu drängen, dass wir endlich mit Brot und Wein am Tisch des Herrn gemeinsam feiern können.

Sehen Sie denn auch Bewegung in dieser Frage?
Es gibt dazu immer wieder Stimmen die hier bremsen. Aber ich bin zuversichtlich, wir haben Schritte gemacht. Ich fühle mich durch Papst Franziskus ermutigt, der mir persönlich und zuvor in der evangelischen Gemeinde in Rom gesagt hat: Sprecht mit dem Herrn und dann schreitet mutig voran. Und das versuchen wir: mutig voranzuschreiten.

Kommen die Gemeinden dabei mit?
Meine Erfahrung ist, dass die Gemeinden viel weiter sind. Es wird nicht verstanden, warum noch gezögert wird. Das führt auch zu Unwilligkeit. Die gelebte Ökumene ist vielerorts viel weiter als die dogmatischen oder kirchenrechtlichen Formulierungen. Für mich ist das ein Zeichen der Hoffnung: die Liebe Jesu Christi ist der zentrale Aspekt des Christentums. Und wenn man diese Liebe Gottes für das christliche Zeugnis ernst nimmt, dann ist sie nicht von der Liebe zueinander zu trennen. Es kann gar nicht sein, dass dogmatische Differenzen vor der gelebten Gemeinschaft stehen.

Martin Spilker ist Mitglied des Institutsrats des Ökumenischen Instituts Luzern.

Alle Bilder von Heinrich Bedford-Strohm an der Otto-Karrer-Vorlesung 2023: © Martin Dominik Zemp

Heinrich Bedford-Strohm

Heinrich Bedford-Strohm ist seit 2011 Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Zwischen 2014 und 2021 war er Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2022 wurde Bedford-Strohm zum Vorsitzenden des Ökumenischen Rates der Kirchen (Weltkirchenrat) für eine Amtsdauer von acht Jahren gewählt. Ende September hat er in der Jesuitenkirche Luzern die Otto-Karrer-Vorlesung unter dem Titel «Ökumene der Herzen und Öffentliche Theologie» gehalten.
Mehr zu den Otto-Karrer-Vorlesungen | Impressionen und Redetext auf der Seite der Otto-Karrer-Vorlesung

Weltkirchenrat

Die Vollversammlung des Weltkirchenrats tritt alle acht Jahre zusammen (zuletzt 2022 in Karlsruhe) und bestimmt den Zentralausschuss. Dieser besteht aus 150 Delegierten der 352 Kirchen in über 120 Ländern, die dem Weltkirchenrat angehören und tagt alle zwei Jahre in Genf. Die Delegierten wählen aus ihrem Kreis den Exekutivausschuss mit 20 Mitgliedern, der mindestens zwei Mal jährlich tagt. Die operative Leitung des ÖRK liegt beim Generalsekretär, Jerry Pillay. Der Südafrikaner wurde ebenfalls 2022 gewählt und hat sein Amt Anfang 2023 angetreten.
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