Christian Wulff über gefährdete Demokratien

Christian Wulff war der fünfte Redner in der Reihe der «Presidential Lectures» an der Universität Luzern. Der ehemalige deutsche Bundespräsident sprach über den Druck, dem Demokratien zunehmend ausgesetzt sind – und was wir als Bürgerinnen und Bürger dagegen tun können.

Luzern sei eine Brückenstadt, betonte Rektor Bruno Staffelbach in seiner Begrüssung, und als solche passe ihre Universität hervorragend dazu, denn sie verstehe sich als Brückenbauerin. Dass Wissenschaft und Gesellschaft im Dialog bleiben, dafür sorgen nicht zuletzt die «Presidential Lectures». Zur bereits fünften Veranstaltung dieser Reihe konnte Rektor Bruno Staffelbach am 6. Dezember den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff als Redner sowie ein zahlreich erschienenes und aufmerksames Publikum begrüssen.

Bedrohte Demokratie

Christian Wulff zeigte sich in seiner Rede besorgt über die weltweite Entwicklung der Demokratie. Nachdem die Zahl und der Anteil der Menschen, die in einer freiheitlichen Demokratie leben, seit dem Zweiten Weltkrieg unaufhaltsam zu steigen schien, sind diese Werte seit 2012 wieder rückläufig. Heute leben gemäss Daten des «Varieties of Democracy»-Projekts der Universität Göteborg rund 13 Prozent der Weltbevölkerung in einer liberalen Demokratie. Die Schweiz liegt im Ranking der demokratischsten Länder an vierter Stelle, hinter Spitzenreiter Dänemark sowie Schweden und Norwegen. Deutschland belegt den zwölften Platz.

Ein grosses Anliegen war es Christian Wulff, die Widerstandsfähigkeit stabiler Demokratien wie der Schweiz oder jener in Japan zu unterstreichen. Gleichzeitig warnte er vor den Kräften, die diese untergraben wollen, einschliesslich Radikalismus und Terrorismus. Wulff verwies auch auf den wachsenden Hass in der Welt, namentlich Antisemitismus und Islamophobie, der demokratische Werte bedroht.

Gefährliche Megatrends

Schliesslich verwies er auf die Megatrends, die 250 renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits vor sechs Jahren in ihrem Bericht an den amerikanischen Präsidenten benannt hatten: Die westlichen Mittelschichten geraten unter Druck, der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung sinkt, der Populismus gewinnt an Boden, während gleichzeitig das Regieren schwieriger wird; kriegerische Auseinandersetzungen nehmen zu, der Klimawandel beschleunigt sich und neue Infektionskrankheiten drohen. Schliesslich bringe der technologische Fortschritt viele Chancen, aber auch Risiken und Herausforderungen mit sich. Bemerkenswert sei, so Wulff, dass mit der Pandemie sowie den Kriegen in der Ukraine und in Israel zwei der Vorhersagen die Welt mit unerwarteter Wucht getroffen hätten.

In seiner Analyse der aktuellen Lage ging Christian Wulff auch auf die Erosion der Demokratie, die Anziehungskraft des Autoritarismus in Krisenzeiten und die Instrumentalisierung der Angst durch politische Akteure ein. Dabei scheute er sich nicht, auch kontroverse Themen wie das Erstarken des Rechtsextremismus anzusprechen und die Positionen der AfD in Deutschland als demokratiefeindlich zu kritisieren. Doch Wulffs Botschaft angesichts all dieser besorgniserregenden Entwicklungen war klar: Um die Stärke der freiheitlichen Demokratien zu erhalten, müssen wir feste Standpunkte ebenso pflegen wie den Respekt vor anderen Meinungen. Und er zitierte den Schweizer Staatsrechtler und Politiker Carl Hilty, der einmal gesagt haben soll, dass das Glück des Lebens nicht darin bestehe, keine Herausforderungen zu haben, sondern diese zu meistern.

Zukunft gemeinsam meistern

Als 1959 Geborener habe er, wie Wulff fortfuhr, ein Leben geniessen dürfen, in dem es immer aufwärts gegangen sei: Dem wirtschaftlichen Aufschwung sei die Wiedervereinigung Deutschlands gefolgt, in seinem ganzen Leben habe es in Deutschland keinen Krieg gegeben. Wer aber beispielsweise 1895 geboren sei, sei mit 19 Jahren in den Ersten und mit 44 Jahren in den Zweiten Weltkrieg gezogen. Es liege an uns, unsere Zukunft zu gestalten und damit auch, wie die heute geborenen Kinder einmal auf ihr Leben zurückblicken werden.

Abgerundet wurde die Veranstaltung durch eine von SRF-Journalistin Katja Stauber moderierte Diskussion, an der neben Rektor Staffelbach auch Bernhard Rütsche, Stv. Rektor und Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, teilnahm. Wulffs Schlusswort klang nach: Die Herausforderungen unserer Zeit mögen entmutigen, aber sie sind mit Entschlossenheit und gemeinsamem Handeln zu meistern.

Impressionen

Der Referent

Christian Wulff engagiert sich als 10. Präsident der Bundesrepublik Deutschland (2010 bis 2012) insbesondere für die Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und im interreligiösen Dialog. Er pflegt enge Beziehungen nach Asien und vertritt Deutschland in Einzelfällen auf internationaler Ebene. 2003 bis 2010 war er Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. 1998 bis 2010 war er stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands. Er ist ehrenamtlich u.a. Vorsitzender des Stiftungsrates der Deutschlandstiftung Integration, Präsident des Deutschen Chorverbandes und Schirmherr der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Er lebt mit seiner Familie in Burgwedel bei Hannover und arbeitet in seiner Anwaltskanzlei in Hamburg und seinem Büro als Bundespräsident a.D. in Berlin.