Im Schatten des Baumes

Das «Baumdenken» ist in der westlichen Kultur tief verwurzelt. Allerdings hat es, historisch betrachtet, immer auch alternative Darstellungsweisen gegeben. Mit diesen befassen sich die Forschenden im Verbundprojekt «In the Shadow of the Tree».

Prof. Dr. Marianne Sommer (2. v. r.), Professorin für Kulturwissenschaften, mit ihrem Team (v. l.): Dr. Eric T. Hounshell, Dr. Lea Pfäffli, Andrea I. Frei und Ruth Amstutz. (Bild: Roberto Conciatori)

Ganz selbstverständlich greifen wir auf das Bild des Baumes zurück, wenn wir verwandtschaftliche Beziehungen klären, erklären oder darstellen wollen. Wir sprechen dann vom Stammbaum. Seine Dominanz als Darstellungsform oder Denkmuster hinterfragen wir wohl selten.

Doch historisch gesehen ist der Stammbaum nur eine Möglichkeit unter vielen, um verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Personen, Menschen-, Tier- oder Pflanzengruppen abzubilden. In der Naturgeschichte wurde in den vergangenen Jahrhunderten etwa mit linearen Anordnungen, Kreisen, Kegeln oder Netzwerken experimentiert. Solche historischen Varianten und damit alternative Sicht- und Denkweisen zu unserem «Baumdenken» werden im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts «In the Shadow of the Tree» unter der Leitung von Prof. Dr. Marianne Sommer untersucht.

Internationaler Verbund

Das Forschungsprojekt ist auf vier Jahre angelegt (2019–2023) und wird vom Schweizerischen Nationalfonds mit 2,92 Mio. Franken gefördert. Vier Universitäten und drei Disziplinen sind am Projekt beteiligt: Marianne Sommer, Professorin für Kulturwissenschaften, Simon Teuscher, Professor für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich, Caroline Arni, Professorin für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Basel, sowie Staffan Müller-Wille, Lecturer am Departement für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie an der Universität Cambridge, der auch einen Honorary Chair an der Universität Lübeck innehat, und ihre jeweiligen Teams. Im Sinne einer Verbundstudie geht diese interdisziplinäre und internationale Kooperation vier übergeordneten Forschungsfragen nach, die sowohl die Grundlagen, die Konzeption und Umsetzung als auch die Verwendungszwecke der Diagramme aufgreifen. So beschäftigen sich die Forschenden im Rahmen verschiedener Teilprojekte damit, welche Grundlagen historisch gesehen für verschiedene Diagramme verwendet wurden: Wer hat Daten gesammelt und wie? Wie wurde vermessen und gerechnet? In einem der Teilprojekte beispielsweise werden diese Fragen am Fall der psychiatrischen Klinik der Stadt Basel im 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht. Diese Einrichtung sammelte systematisch Patientendaten und trug mit ihren Anamnesebögen und Genealogien dazu bei, die zentrale Frage der Vererbung von Krankheiten zu beantworten.

Weiter beleuchten die Forschendenteams die Konzeption und Umsetzung von Diagrammen. Welche Prozesse, Hypothesen und Theorien liegen ihnen zugrunde? Welche Technologien wurden verwendet? Jedes Diagramm lässt Rückschlüsse auf enthaltene Grundannahmen und Denkweisen zu. Der Stammbaum beziehungsweise die Vorherrschaft des «Baumdenkens» zum Beispiel zeigt unsere westliche Tendenz, Verwandtschaft auf Abstammung zu reduzieren. So wurde und wird das Baumdiagramm auch in der biologischen Anthropologie zur Visualisierung von Abstammungslinien menschlicher Populationen verwendet. Und dies, obwohl wir heute mittels der Analyse von Genomen Verwandtschaft und Abstammung schnell und umfassend bestimmen können – und diese Erkenntnisse ein komplexeres, vernetztes Bild nahelegen.

Ziel: interdisziplinäre Diagrammatik

Schliesslich stellt sich die Frage nach der Verwendung verschiedener Diagramme. Wie wurde ein Diagramm genutzt? Zu welchem Zweck wurde es eingesetzt? So finden beispielsweise Diagramme im Bereich «Recht» vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein Untersuchung. Diese wurden damals erstellt und verwendet, um Inzucht zu unterbinden. Ein anderes Teilprojekt setzt sich bezüglich dieser Fragen beispielsweise mit Verfahren zur Feststellung von «Reinheit» in Bezug auf religiöse Zugehörigkeit und «Rasse» auseinander und untersucht, wie diese mit Hilfe von Diagrammen in europäischen und kolonialen Kontexten konzeptualisiert wurde. Im gesamten Projekt werden damit die Perspektiven mehrerer Disziplinen und Ansätze auf eine Vielfalt von Gegenstandsbereichen und Kontexten angewandt. Sie reichen von Recht, Religion, Genealogie, Naturgeschichte, Biologie, Anthropologie, Ethnologie, Psychiatrie, Genetik bis hin zu Eugenik. Es wird beleuchtet, wie verwandtschaftliche Beziehungen seit dem Mittelalter gedacht und umgesetzt wurden, und untersucht, welche Verwendung diese Diagramme in der Wissensproduktion, im Sozialen, in der Kultur oder der Politik fanden. Ziel ist es, durch vergleichende und lange Zeiträume abdeckende Analysen eine interdisziplinäre Diagrammatik zu entwickeln.

Luzern übernimmt die Führung

Das Projekt – dessen vollständiger Titel «In the Shadow of the Tree. The Diagrammatics of Relatedness as Scientific, Scholarly, and Popular Practice» lautet – gehört zu denjenigen Forschungsvorhaben, die vom Nationalfonds im Rahmen von «Sinergia» gefördert werden. Es handelt sich hierbei um ein Förderinstrument für kollaborative und interdisziplinäre Forschung, die bahnbrechende Erkenntnisse verspricht. Zwar war die Universität Luzern bereits an Sinergia-Projekten beteiligt, erstmals liegt nun aber die Projektverantwortung bei ihr, und sie zeichnet damit für die Koordination und die Finanzen verantwortlich.

Während an den anderen beteiligten Universitäten je zwei Doktoratsstellen geschaffen wurden, konnten an der Universität Luzern zwei Habilitations-/Postdoc-Stellen sowie eine Doktoratsstelle eingerichtet werden. Erstere wurden mit Dr. Lea Pfäffli (ehemals ETH Zürich) und Dr. Eric T. Hounshell (ehemals Universität von Kalifornien), der für die Koordination des Gesamtprojekts zuständig ist, besetzt. Ruth Amstutz, Absolventin der Kulturwissenschaften in Luzern, erhielt die Promotionsstelle. Andrea I. Frei ist als Hilfsassistentin angestellt. Die neue Rolle, welche die Universität Luzern in diesem gross angelegten Projekt innehat, ist Herausforderung und Chance zugleich; sie öffnet Türen zu ganz neuen Erfahrungen und Erkenntnissen und stellt einen grossen Gewinn für den Forschungsstandort Luzern dar.

Vera Bender
 

Vera Bender, Masterabsolventin der Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften
an der Universität Luzern, freischaffende Texterin