Ist Religion (noch) relevant? Mit Achtsamkeit zwischen Sinnsuche und Selbstoptimierung
Achtsamkeit ist allgegenwärtig – in Apps, Firmenkursen und Yogastudios. Doch dient sie heute noch der inneren Freiheit oder ist sie zum Werkzeug der Selbstoptimierung geworden? Eine Ringvorlesung mit der Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Almut-Barbara Renger und dem MBSR-Trainer Matthias Wigger ging dieser Frage nach.
«Hatten Sie heute einen Moment der Ruhe?» Mit dieser einfachen, aber überraschenden Frage eröffnete der MBSR-Trainer (siehe Box) Matthias Wigger seinen Vortrag. Von Religion und Spiritualität war kaum die Rede – stattdessen von Gehirnmuskeltraining, Atmung und Aufmerksamkeit.
Vom Kloster ins Grossraumbüro
Wigger bezeichnet sich selbst ausdrücklich nicht als Buddhist, auch wenn er von buddhistischen Traditionen geprägt ist. Sein Fokus liegt auf Stressreduktion, nicht auf Erlösung.
Der Zugang von Prof. Dr. Almut-Barbara Renger ist ganz anders. Die Religionswissenschaftlerin zeichnete in der Vorlesung die weite Entwicklung der Achtsamkeit nach: Von der meditativen Praxis buddhistischer Mönche bis zu Achtsamkeitskursen in Banken und Versicherungen. Ursprünglich sollte Achtsamkeit helfen, die drei buddhistischen Daseinsmerkmale – Vergänglichkeit, Leiden und Nicht-Selbst – zu erkennen und so den Weg zum Nirvana zu ebnen. Heute ist sie weitgehend losgelöst von diesen religiösen Zielen.
Wie aus Nirvana Selbstoptimierung wurde
Im 20. Jahrhundert fand die Meditation ihren Weg in den Westen – befördert durch die 68er-Bewegung und ihr Interesse an fernöstlicher Praxis. Der Molekularbiologe und Zen Schüler Jon Kabat-Zinn entwickelte daraus die Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR): eine säkulare Mischung aus den buddhistischen Meditationsformen Vipassana und Zen sowie Yoga und Psychotherapie. Aus spiritueller Praxis wurde eine Technik zur Stressbewältigung – und aus Achtsamkeit ein Markt.
Heute ist Achtsamkeit längst Teil der neoliberalen Selbstoptimierungskultur: Unternehmen bieten Achtsamkeitstrainings an, um die Leistungsfähigkeit ihrer Angestellten zu steigern. Was einst ein Weg zur inneren Befreiung war, wird zur Methode der Produktivitätssteigerung.
Zwischen Ruhe und Rendite
Eine Zuhörerin fasste dieses Spannungsfeld als Frage zusammen: Wird Achtsamkeit nicht längst als Heilmittel gegen Burnout verkauft – und ist dabei selbst Teil jener neoliberalen Selbstoptimierung, der sie eigentlich entkommen will? Wigger konterte gelassen: Achtsamkeit sei keine Leistungspraxis, sondern eine lebenslange Übung. Wer schnelle Resultate erwarte, sei bei MBSR am falschen Ort.
Ein weiterer Zuhörer formulierte poetisch: Obwohl die Klöster im Westen leer stehen, würden die Menschen zu «Mönchen des Alltags». Nur: Streben sie dabei nach innerer Freiheit – oder nach maximaler Effizienz?
Weitere Informationen zur Ringvorlesung
Dieser Beitrag wurde von Michael Bieri, Masterstudent in Ethnologie und Religionswissenschaft, verfasst.
MBSR
MBSR steht für Mindfulness-Based Stress Reduction, auf Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Typische Elemente sind bspw. Atemmeditation, Yoga-Übungen, systematische Körperwahrnehmung usw. MBSR soll Menschen dabei unterstützen, Stress besser zu bewältigen, bewusster zu leben und gelassener mit Belastungen umzugehen.
