Zwischen Jesusglow und halal Millionär: Wie Religion auf TikTok boomt

Christfluencer und Cyber-Imame erreichen auf TikTok Millionen junger Menschen. Was religiöse Influencer dem überwiegend jungen Publikum vermitteln und welche Chancen und Risiken dabei entstehen, war Thema einer Ringvorlesung an der Universität Luzern.

Prof. Anna Neumaier bei der Ringvorlesung. (Bild: Michael Bieri)

Dass religiöser Content in sozialen Medien rasant an Bedeutung gewinnt, zeigen aktuelle Schlagzeilen. 20 Minuten schreibt: «Christfluencer machen Religion für junge Menschen wieder attraktiv», während der Blick gleichzeitig vor «kruden Christfluencern» warnt. Wie solche Influencer*innen wirken und was das für die Rolle der Religion bedeutet, diskutierten die Religionswissenschaftlerin Prof. Anna Neumaier von der Universität Bochum und Dr. Jürgen Endres von der Universität Luzern am 19. November im Rahmen der Reihe «Ist Religion (noch) relevant?».
 

Von Papyrusbriefen zu Tik Tok Feeds
Die Vermittlung religiöser Inhalte über Medien ist so alt wie die Religionen selbst – nur ersetzen TikTok-Reels Papyrus- und Gemeindebriefe, später den Buchdruck. Doch soziale Netzwerke haben eine Besonderheit: Sie lösen traditionelle Autoritäten auf. Was heisst Christ- oder Christinsein im Alltag? Wie lebt man als „richtige“ Muslima oder richtiger Muslim? Inhalte, die früher Pfarrer, Priester oder Imame vermittelten, kursieren nun in personalisierten Feeds.
 

Halal Hustle und Jesusglow
Endres zeigte anhand von Beispielen aus seinem Seminar, wie vielfältig muslimische Influencer*innen auftreten. Ein Cyber-Imam antwortet etwa auf die Frage, ob es halal sei, in Schweinfurt zu leben. Andere liefern Schminktipps oder eine Anleitung, wie man halal zum Millionär wird. Die Bandbreite an Themen ist unendlich und gesellschaftliche Trends wie Selbstoptimierung à la Hustle Culture verschmelzen mit religiösen Normen.

Ähnlich bei christlichen Accounts: Neumaier präsentierte Videos über den sogenannten «Jesusglow», der behauptet, wahrer innerer Glaube führe zu makelloser Haut. Gleichzeitig gibt es Influencer*innen, die queere Bibelinterpretationen vertreten und betonen, dass Jesus’ Liebesbotschaft offen für LGBTQIA+-Identitäten sei.


Neue Räume, neue Autoritäten
Beide Forschende sehen darin ein neues religiöses Feld, das weitgehend unabhängig von Institutionen funktioniert und auch von religiösen Laien bespielt werden kann. Neben Risiken wie Filterblasen und Radikalisierung sehen Neumaier und Endres auch Chancen: Der digitale Raum bietet niedrigschwelligen Zugang zu Religion, besonders für Menschen, die sich in traditionellen Institutionen nicht wiederfinden oder keinen Zugang zu religiöser Bildung hatten. Viele finden erstmals Zugang zu Glaubensthemen sowie neue Diskursräume, die offline nicht existieren.
 

Was bleibt von der Gemeinschaft?
In der Diskussion stellte ein Zuhörer die Frage: Wo bleibt die religiöse Gemeinschaft, wenn religiöse Influencer*innen in einer Einwegkommunikation konsumiert werden? Neumaier betont, dass Zugehörigkeit oft über Identifikation entsteht: Wer dieselben religiösen Inhalte konsumiert, fühlt sich automatisch als Teil einer virtuellen Gemeinschaft. Endres verweist auf die islamische umma, die Weltgemeinde aller Musliminnen und Muslimen, die von vielen Influencer*innen bewusst betont wird. Entscheidend ist hierbei der Glaube, nicht der Ort.
 

Zwischen Scrollen und Kirchbank
Wie reagieren traditionelle religiöse Autoritäten darauf? Werden katholische Pfarrer künftig selbst Influencer, um im digitalen Markt präsent zu bleiben? Oder bleiben Gottesdienst und Social-Media-Predigt zwei getrennte Sphären – Weihrauch hier, virale Bibelverse dort? Die Antwort bleibt offen. Sicher ist jedoch: Religion bleibt für viele junge Menschen ein wichtiger Bezugspunkt – nur ihre Räume und Autoritäten verschieben sich. 

 

Weitere Informationen zur Ringvorlesung

Programmflyer

Dieser Beitrag wurde von Michael Bieri, Masterstudent in Ethnologie und Religionswissenschaft, verfasst.