Plädoyer für die Wertschätzung der Anderen

Die frühere Politikerin und Diplomatin Annette Schavan sprach sich an der diesjährigen Otto-Karrer-Vorlesung unter dem Titel «Wider die Resignation» für die konsequente Zuwendung auf den Menschen als Gegenüber aus. Gerade auch dann, wenn dieser eine andere Meinung vertritt.

Annette Schavan macht sich an der Otto-Karrer-Vorlesung 2025 «Wider die Konfrontation» stark. (Foto: Martin Dominik Zemp)

Die Vielfalt der Referentinnen und Referenten der Otto-Karrer-Vorlesungen ist Programm. Ebenso deren immer wieder überraschende Bezugnahme auf Leben und Werk des bedeutenden Theologen, dem diese Reihe gewidmet ist. Dass ein vor längerer Zeit festgelegtes Thema am Tag der Vorlesung eine solche Aktualität hat, ist nicht vorhersehbar. Dem gegenwärtigen Weltgeschehen voller Konflikte und Machtbesessenheit hielt Annette Schavan an der Otto-Karrer-Vorlesung 2025 in der Jesuitenkirche in Luzern denkwürdige Impulse für die politische Kultur entgegen. Und diese Impulse entdeckt sie – in einer anderen Sicht des Christentums.

«Katholizität» als Grundlage eines auf Frieden angelegten Europas

Annette Schavan war 25 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, unter anderem als Ministerin für Bildung und Forschung der deutschen Bundesregierung (2005–2013) sowie als Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl (2014–2018). Religion und Kirche bedeuten ihr viel. Gerade deshalb spart sie auch nicht mit Erwartungen, ja Forderungen an ihre eigene, die römisch-katholische Kirche, sowie an die Christenheit und die Verantwortungsträger aller Religionen. Denn wie in Gesellschaft und Politik stellt Schavan auch hier immer härter ausgetragene Konfrontationen statt eine Dialogbereitschaft fest.

Für die prominente Katholikin liegt aber gerade im theologischen Begriff der Katholizität – den sie deutlich vom Katholizismus unterscheidet – die Grundlage für erfolgversprechende Konfliktlösungen. Dabei nimmt sie Bezug auf den deutschen Theologen, Philosophen und Pädagogen Roman Siebenrock, der die Geschichte der europäischen Einigung seit den Römischen Verträgen 1957 als «zutiefst katholische Entwicklung» bezeichnet hat. Einigung zwischen unterschiedlichen Haltungen erfordere die Bereitschaft, den Andern in seiner Würde anzunehmen und zu wertschätzen, statt auf Konfrontation zu gehen. 

Weltethos statt Konfrontation

Doch heute, wo nach grossen Aufbrüchen in der Politik mit der Wiedervereinigung Europas oder in der römisch-katholischen Kirche mit dem Kurswechsel des Zweiten Vatikanischen Konzils die Zeichen weltweit auf Konfrontation stehen, sieht Annette Schavan das gemeinsame «Wir» gefährdet. Vereinbarungen der Solidarität, für den Frieden und das Überleben der Menschheit seien «derzeit nicht en vogue», stellte sie fest.

Als Gegenentwurf erinnerte sie an das Weltethosprojekt des Luzerner Theologen Hans Küng, dem die Universität Luzern ebenfalls eine jährliche Lecture widmet. Weil Religionen immer auch in Gefahr sind, Radikalisierungen in Gesellschaften zu fördern, sieht Schavan sie besonders in der Pflicht. Denn Gott und Gewalt seien nicht zu vereinen, wie sie mit einem Zitat der muslimischen Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman aus Jemen unterstrich. Damit sei auch ein Kriterium für echte Religion benannt. 

Pfingsten als Schlüssel auch für die politische Kultur

Annette Schavans Problemanzeigen mündeten in Impulsen aus der «anderen» Sicht des Christentums, welche in der politischen Kultur Gewicht bekommen müssten. Sie sprach sich für eine «pfingstliche Professionalität der Christenheit» aus. Gerade das Pfingstereignis mache deutlich: Trotz verschiedener Sprachen und Haltungen kann Verständigung gelingen. 

Auch den Begriff der Heiligkeit empfiehlt sie in konfliktbeladenen Debatten. Hier hob Schavan nicht die grossen Heiligen der Kirchengeschichte hervor, sondern die Menschen, denen Jesus von Nazareth gemäss den Evangelien in seinen Begegnungen «jenseits von Zwecken und Leistungen» begegnete und deren Leben er als «heiliges» würdigte. In unserer Zeit des Rückfalls in Nationalismen erinnerte die Referentin an die gleichwertige Würde jedes Menschen sowie insbesondere auch von schutzsuchenden Fremden. 

Theologie als kulturelles Laboratorium 

Zum Schluss brach Annette Schavan eine Lanze für die Theologie als Wissenschaft, die mehr als eine Angelegenheit der Kirchen sei. Der Erfahrungsschatz der Theologie, ihr Erkenntnisspektrum und kritisch-korrektive Sicht stelle im globalen Dialog über Zukunftsfragen einen unverzichtbaren Wert dar. Mit dem Bild des verstorbenen Papst Franziskus in der Enzyklika «Veritatis gaudium» trage die Theologie als «kulturelles Labor» Verantwortung für die Wissenschaft als Ganzes, die ebenso wie die Demokratie unter Druck gerate. – Für die anwesenden Entscheidungsträger aus Kirche, Politik und Wissenschaft durfte dies als Fingerzeig verstanden werden.

An der wiederum sehr gut besuchten Otto-Karrer-Vorlesung verwies Professorin Nicola Ottiger im Namen der Theologischen Fakultät sowie des Ökumenischen Instituts Luzern auf die vielseitigen und nachhaltigen Inspirationen des Luzerner Theologen, Ökumenikers und Seelsorgers Otto Karrer. Die Besucherinnen und Besucher entliess Ottiger mit der Ermutigung, dass die Christenheit gemeinsam in der Verantwortung stehen würde, den Weg in die Zukunft «nicht ohne die Anderen» zu gehen. Gerade der Ökumene komme eine besondere Bedeutung zu, wenn es darum gehe, sich mit «pfingstlicher Professionalität» für das Gemeinsame und Ganze der Menschheitsfamilie einzusetzen. 

Dieser Bericht wurde Martin Spilker verfasst. Er schreibt regelmässig zu Anlässen des Ökumenischen Instituts Luzern. Er ist Mitglied des Institutsrats des Ökumenischen Instituts Luzern.

Über die Otto-Karrer-Vorlesung
Die Otto-Karrer-Gedenkvorlesung wird in Erinnerung an den Luzerner Theologen und Ökumeniker Otto Karrer (1888-1976) von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern durchgeführt. In Würdigung dieses Vordenkers einer gerechten Gesellschaft sprechen Persönlichkeiten aus Kirche, Wissenschaft und Politik.

Weitere Informationen auf der Webseite der Vorlesungsreihe | Der Redetext als PDF

Berichterstattung zur Vorlesung 2025 
auf katholisch.de