Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Im Rahmen der neunten Presidential Lecture skizzierte Patrizia Nanz, wie eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft gelingen kann – und weshalb Universitäten dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Patrizia Nanz, Präsidentin des Europäischen Hochschulinstituts (EUI) in Florenz

«Wir leben über unsere Verhältnisse.» Mit dieser unbequemen Wahrheit startete Professor Patrizia Nanz ihren Vortrag vom 9. Oktober. Sie ist Präsidentin des Europäischen Hochschulinstituts (EUI) in Florenz, einer Partnerinstitution der Universität Luzern. Der «Earth Overshoot Day» markiere den Tag, fuhr Nanz fort, an dem die weltweit verfügbaren natürlichen Ressourcen eines Jahres verbraucht sind. Für die Schweiz fiel er in diesem Jahr auf den 7. Mai – würde die Welt so leben wie hierzulande, bräuchte es demnach drei Erden. Deshalb, so die Politikwissenschaftlerin, sei klar, dass es eine grundlegende Veränderung unserer Lebensweise hin zu mehr Nachhaltigkeit brauche, eine regelrechte «Transformation». Patrizia Nanz betonte, dass diese nicht lediglich als eine von diversen Aufgaben zu verstehen sei, sondern als die zentrale Herausforderung, um das Fundament unserer Gesellschaft zu sichern. Es gehe auch um die Frage, welche Schweiz, welches Europa wir zukünftigen Generationen überlassen wollen und welche Zukunft es überhaupt zu verteidigen gelte.

Demokratie und Wandel

Die Transformation habe längst begonnen – deren Verlauf sei allerdings völlig offen, so Nanz, welche die grössten Herausforderungen anhand dreier Aspekte aufzeigte: Erstens müssten wir, um den Zustand einer nachhaltigen Gesellschaft zu erreichen, unseren aktuellen Ressourcenverbrauch um fast 70 Prozent senken. Zweitens fusse, erklärte Patrizia Nanz, unsere bisherige gesellschaftliche Stabilität auf «Nicht-Nachhaltigkeit» – denke man zum Beispiel an die kapitalistische Wachstumsdynamik und das Anspruchsniveau westlicher Wohlstandsgesellschaften. Es gelte, unsere von «Beschleunigungsdynamik» und «imperialer Lebensweise» geprägte Kultur auf eine neue Basis zu stellen. Und drittens, so Nanz, laufe uns schlicht die Zeit davon. Deshalb müsse die grosse Transformation hin zu einer ökologischen Lebensweise rasch und effektiv vollzogen werden, um «die Gestaltung der planetaren Zukunft auch für kommende Generationen so offen wie möglich zu halten.»

Die gute Nachricht sei, dass das Bewusstsein für diese Veränderung mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit angekommen sei und auch in vielen Verfassungen ihren Niederschlag gefunden habe, so Nanz weiter. Durch die derzeitigen geostrategischen Herausforderungen sei aber das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung einer Transformation zur Nachhaltigkeit ins Hintertreffen geraten. Es habe sich auch gezeigt, wie schwierig es sei, einen solchen Wandel demokratisch zu vermitteln. Für Menschen aus der Automobilbranche etwa sei Wandel mit der Angst um den Arbeitsplatz verbunden, und die Rechtsparteien würden ihren Erfolg aus der Ablehnung jeglicher Veränderung ziehen. Die Aufgabe bestehe deshalb darin, die Bürgerinnen und Bürger miteinzubeziehen, damit diese sich als selbstwirksame Mitgestaltende verstünden. 

Komplexes Zusammenwirken

Die Herausforderungen der Transformation würden ein gemeinsames Mitwirken von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft erfordern, sagte Nanz. Werde dieser Wandel alleinig als politische Aufgabe verstanden, entstehe kein Bewusstsein für das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Sektoren, die für eine umfassende Transformation unerlässlich seien. «Wir werden viel stärker kooperieren müssen», so ihr Zwischenfazit, den Begriff der «Ko-Kreation» ins Spiel bringend: Es bedürfe der «Einsicht, dass gemeinwohlorientierte, unterschiedliche Perspektiven und vertrauensbasierende Kooperationsprozesse kreative und bewusstere Lösungsansätze generieren können».

Patrizia Nanz machte drei Vorschläge, wie die Wissenschaft und insbesondere die Sozialwissenschaft diesen Prozess unterstützen könne. Die Politberatung, die klassische Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft, scheitere oft an engen Zuständigkeitsgrenzen der Verwaltung. Sie sprach daher erstens die Empfehlung aus, alle Akteurinnen und Akteure bereits in der Wissensproduktion einzubeziehen. So entstehe eine «integrierte Herangehensweise», man arbeite gemeinsam an Strategien, so Patrizia Nanz. Zweitens schlug sie  eine Art «Gesellschaftsberatung» vor, bei der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit Expertinnen und Experten Empfehlungen erarbeiten.

Freie Forschung in der Pflicht

Als dritten Punkt nannte die Referentin generell die freie Forschungstätigkeit der Universitäten. Transformation zur Nachhaltigkeit werfe viele Fragen auf, etwa zur politischen Ethik oder der Gerechtigkeit, deshalb brauche es intensive öffentliche Diskussionen über Werte. Sie sieht Universitäten als «Ankerpunkte einer reflexiven Transformation»: Orte, an denen kritisches Denken, interdisziplinäre Forschung und konkrete Umsetzungsräume zusammenfallen. «Viele Antworten auf die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen von morgen werden heute bereits erforscht», erklärt Nanz. – Die Freiheit, dies zu tun, sei kostbar und verpflichte insbesondere die Geistes- und Sozialwissenschaften, die gesellschaftliche Dimension des Wandels mitzugestalten. Dafür bräuchten Hochschulen Schutz – akademische Freiheit, verlässliche Laufbahnen –, Klugheit, etwa, indem sie keine Beratungsfirmen auf Abruf werden, und Mut, mit neuen Formaten zu experimentieren und die Debatte offen zu halten. Wenn wir Universitäten als Räume bewahrten, die das Ganze zusammenhalten, würden sie nicht nur Ausgangspunkte von Wissenschafts-, Politik- und Gesellschaftsberatung sein, erklärte Nanz, sondern Orte, die Impulse aufnehmen, verarbeiten und in dauerhafte Praxis übersetzen.

Impressionen

Bilder: Roberto Conciatori