Ist Religion (noch) relevant? Neue Glaubensformen in einer säkularen Gesellschaft
Tarotkarten, Manifestieren und Schamanismus statt Beichte und Kommunion – neue Formen von Spiritualität gewinnen an Bedeutung. Doch was sagt das über Religion in unserer Gesellschaft aus?
Von einer zunehmenden Säkularisierung ist in der Schweiz wie auch in ganz Westeuropa die Rede. Doch Bundesumfragen zeigen: Rund die Hälfte der Bevölkerung glaubt an eine höhere Macht oder an Menschen mit besonderen Fähigkeiten wie Heilen oder Hellsehen. Mit welchen Religionsbewegungen oder Formen von Spiritualität haben wir es hier zu tun?
Die Fashion Week der Spiritualität
Darüber diskutierten am 23. Oktober die Religionswissenschaftlerin Anna-Katharina Höpflinger und Jan Emanuel Harry, Masterabsolvent der Universität Luzern, in der dritten Ringvorlesung der Reihe «Ist Religion (noch) relevant?».
Die Veranstaltung trug den Titel «Spiritualität - das Individuum auf der Suche nach Ganzheitlichkeit». Wie ist diese Ganzheitlichkeit zu erreichen? Höpflinger betonte, dass es – ähnlich wie in der Mode – auch in der Spiritualität Trends gebe. Würde man eine «Fashion Week» für spirituelle Praktiken veranstalten, stünden im Herbst 2025 wohl Schamanismus, Tarotkarten und das Manifestieren auf den Laufstegen in Paris und London.
So weit muss man aber nicht reisen: Harry verfasste seine Masterarbeit zum Thema Schamanismus. Auch in Luzern gebe es Menschen, die sich selbst als Schamaninnen und Schamanen verstehen.
Spiritualität neu gedacht
Wie sind diese Entwicklungen im Hinblick auf die fortschreitende Säkularisierung zu bewerten – jenem Hauptgrund, der häufig für Kirchenaustritte genannt wird? Erleben wir, dass Religion und Spiritualität zunehmend individuell und ausserhalb traditioneller Strukturen gelebt werden? Und inwiefern beschäftigen sich neue spirituelle Bewegungen mit globalen Themen wie der Klimakrise?
Harry sieht tatsächlich eine Verschiebung, während Höpflinger auf die komplexen Gründe für Kirchenaustritte hinwies. Sie betonte zudem, dass die Landeskirchen nach wie vor spirituelle Praktiken anbieten, diese jedoch weniger im Fokus stehen.
Bezogen auf die Klimakrise engagieren sich einzelne bekannte Schamaninnen, insbesondere im Amazonasgebiet, öffentlich gegen Abholzung. Zwar gehört eine enge Naturverbindung zum Kern des Schamanismus, doch bleibt offen, ob auch hierzulande stärkeres Engagement entstehen wird. Da Schamanismus in der Schweiz meist individuell praktiziert wird, ist seine politische Wirkung bislang begrenzt.
Glauben ohne Kirche?
Die Vorlesung zeigte: Die Säkularisierungsthese muss differenziert betrachtet werden. Der Wunsch nach Sinn und Ganzheit bleibt lebendig. Er zeige sich heute jedoch in anderen Glaubensformen, die häufig in privaten Zeremonien und individuellen spirituellen Praktiken Ausdruck finden, etwa im Manifestieren.
Viele Menschen kombinieren diese Formen der Spiritualität weiterhin mit der Mitgliedschaft in einer Landeskirche. Spiritualität ist also nach wie vor Teil des Lebens vieler Schweizerinnen und Schweizer – wenn auch in neuen, individuellen Formen.
Weitere Informationen zur Ringvorlesung
Dieser Beitrag wurde von Michael Bieri, Masterstudent in Ethnologie und Religionswissenschaft, verfasst.
