«Eine neue Sicht auf den Menschen kann helfen.»

Dr. h. c. mult. Annette Schavan hält die diesjährige Otto-Karrer-Vorlesung vom 24. September in der Jesuitenkirche. Im Interview gibt sie einen ersten Einblick in ihr Thema «Wider die Konfrontation» und erklärt, was die Politik vom Glauben lernen kann.

Annette Schavan auf ihrer Vespa vor dem Petersdom in Rom
Annette Schavan in Rom vor dem Petersdom Foto: Laurence Chaperon

Annette Schavan war über 20 Jahre in Politik und Diplomatie tätig, u.a. als Bundesministerin für Bildung und Forschung in Deutschland und als Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl in Rom. Für sie ist in dieser Zeit klar geworden, dass sich alle grossen Zukunftsfragen in dieser globalen Welt nur gemeinsam beantworten lassen. Da die Christenheit auf allen Kontinenten präsent ist, kann und sollte sie aus ihrer Sicht prägend wirken.

Frau Schavan, Sie sprechen in Ihrer Vorlesung von einer «anderen Sicht des Christentums», die im politischen Diskurs helfen kann. Was genau meinen Sie damit – und warum ist gerade jetzt ein Perspektivenwechsel so wichtig für unsere politische Kultur?

Annette Schavan: Gemeint ist eine neue Sicht auf den Menschen, die vor allem in den Begegnungen Jesu mit Menschen - der Frau am Jakobsbrunnen, der Ehebrecherin, dem reichen Mann, dem Zöllner Zachäus - erkennbar wird.
Der Perspektivenwechsel ist heute besonders wichtig, weil ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für Menschen Konfrontation gesucht wird, die die Welt ärmer und unsicherer macht.

Sie waren viele Jahre in Politik und Diplomatie tätig. Welche Erfahrungen aus dieser Zeit prägen Ihre heutige Sicht auf das Verhältnis von Religion und politischer Verantwortung?

Die Beziehung von Religion und politischer Verantwortung war und ist für mich als Christin eine Quelle von freiheitlicher Orientierung in der Sozialethik gewesen: kleine Einheit vor der großen Einheit (Subsidiaritätsprinzip), freier Träger vor dem Staat, Personalität, Solidarität. In der Bundesrepublik Deutschland war nach den beiden Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Überzeugung vorherrschend, dass das Christentum die einzig wirksame Kraft gegen alles Totalitäre sein kann. Das hat die junge Bundesrepublik geprägt.

Sie haben sich immer wieder auch als Frau in Politik, Bildung und Kirche(n) für Gleichstellung eingesetzt. Wie schauen Sie auf diesbezügliche Erfolge zurück und wo müsste man weiter ansetzen? Welche Rolle spielt die sog. Frauenfrage in den heutigen grossen gesellschaftlichen und politischen Krisen?

In Unternehmen ist bekannt, dass «gemischte Teams» vorteilhaft und wichtig sind - für Kreativität, Wirksamkeit und die Entwicklung von Perspektiven. Je mehr geschlechtsspezifische Dominanz vorherrscht, umso mehr drohen Einseitigkeit und die Vernachlässigung von Erfahrungen derer, die nicht beteiligt sind. Das gilt in der Politik ebenso wie in den Religionen.

Sie sprechen von der «Rolle der christlichen Kirchen für politische Kulturen weltweit». Welche Bedeutung und Verantwortung hat Ökumene in diesem Zusammenhang? Können die christlichen Kirchen überhaupt einen Beitrag leisten, die ja selbst untereinander nicht eines Sinnes sind?

Die Zukunft des Christentums ist eine ökumenische Zukunft. Davon bin ich überzeugt. In dieser ökumenischen Zukunft gibt es Sprachenvielfalt, gleichsam eine pfingstliche Kultur. Es braucht die gemeinsame Haltung und Stimme im lebens- und glaubensrelevanten Kern christlicher Existenz.
In der nächsten Dekade wird genau das eine Schlüsselfrage sein: Einheit und Vielfalt, was ist die Sache der Teilkirchen, was «regelt» Rom?

Inwieweit hat Ihr politisches Engagement Ihre religiöse Haltung beeinflusst?

Der politische Alltag hat mich gelehrt, wie sehr die Bereitschaft zu Dialog und Kompromiss bedeutsam sind, auch für die Akzeptanz von politischen Entscheidungen. Das ist keine Abkehr von Überzeugungen; es ist der sensible Umgang mit verschiedenen Überzeugungen, die zur Debatte gehören. Meine religiöse Haltung ist reflektierter geworden und sensibler dafür, dass der Disput zur DNA einer lebendigen Demokratie gehört.

Wie hilft Ihnen Ihre Religion im Alltag, also auch abseits von der Politik?

Mein Glaube ist die Quelle meines Grundvertrauens in Gott und die Welt.

Die Otto-Karrer-Vorlesung

Seit 1977 wird im Gedenken an den Ökumeniker Otto Karrer jährlich eine Otto-Karrer-Vorlesung gehalten. Dabei kommt jedes Jahr eine andere Persönlichkeit aus Kirche, Gesellschaft oder Politik zu Wort.

Zu den bisherigen Otto-Karrer-Vorlesungen

Flyer der Otto-Karrer-Vorlesung 2025