Die Soziologie kann im Umgang mit «Big Data» eine wichtige Brückenfunktion einnehmen. Gleichzeitig erfordert der Umgang mit den grossen Daten auch, das bewährte methodische Repertoire zu erweitern, so Professorin Sophie Mützel.

Omnipräsente Datenerhebung: Sophie Mützel, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Medien und Netzwerke sowie Prodekanin der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, bei einer Velozählanlage in der Stadt Luzern. (Bild: Silvan Bucher)

Sophie Mützel, was muss man sich unter Big Data vorstellen? 

Sophie Mützel: Das Schlagwort umfasst die Idee von grossen, unstrukturierten und klassischerweise auch nicht aufbereiteten Datenmengen bzw. Datenpunkten. Im digitalen Zeitalter produzieren wir diese etwa, indem wir uns mit unseren Smartphones durch die Welt bewegen. Daneben entstehen grosse Daten aber zum Beispiel auch, wenn Archive digitalisiert werden. Mit solchen grossen Daten müssen wir anders arbeiten als bisher.

Welche Stärken bringt die Soziologie bezüglich der Arbeit mit Daten bereits mit?

Lange Zeit war die Soziologie davon geprägt, mit wenigen Daten, ja: mit einem Mangel von Daten zu arbeiten. Klassischerweise stehen uns nicht genügend Mittel zur Verfügung, um jede Schweizerin und jeden Schweizer zu allen Themen von Interesse zu befragen. So wurden Methoden entwickelt, wie auch mit wenigen Daten aussagekräftige Ergebnisse erlangt werden können. Wir ziehen also eine repräsentative Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung, analysieren diese und können auf dieser Basis zuverlässige Aussagen treffen. Ebenfalls können wir Interviews führen oder Beobachtungen machen, um Einsichten zu gewinnen. In der Erhebung dieser Daten – und in den damit verbundenen Auswertungsmethoden – ist die Soziologie sehr stark.

Welche Herausforderung stellt sich der Soziologie nun angesichts von Big Data?

Heute ist die Situation eine andere. Um ein Beispiel zu machen: Wir haben potenziell Daten von 98 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, da diese ein Smartphone nutzen. Damit sind andere Daten als bis anhin verfügbar. Weil also der Werkzeugkasten auf eine andere Datengrundlage ausgerichtet ist, brauchen wir auch neue Werkzeuge.

Wir müssen lernen, diese neuen digitalen Daten zu erheben, sie aufzubereiten und bestimmte Gütekriterien zu entwickeln.
Sophie Mützel

Was sind die Ergebnisse aus Ihrer nun abgeschlossenen Studie «Facing Big Data» (vgl. Hinweis ganz am Schluss)?

Wichtig ist mir zu betonen, dass das, was die Soziologie bis anhin gemacht hat, weder falsch noch schlecht ist. Im Gegenteil. Aber wir müssen uns nun auch mit dem anderen Typ von Daten beschäftigen, die das Soziale ausmachen und die auch von den Studierenden wie den zukünftigen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern analysiert werden wollen. Das heisst, wir müssen lernen, diese neuen digitalen Daten zu erheben, sie aufzubereiten und bestimmte Gütekriterien zu entwickeln. Zwar besitzen, um auf das Beispiel zurückzukommen, 98 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer Smartphones, aber weit weniger von ihnen sind auf Twitter.

Was heisst das dann also, wenn ich die Daten von allen Schweizer Twitter-Nutzerinnen und -Nutzern und ihren Abstimmungs-Tweets analysiere?

Dass wir neue Methoden brauchen, betrifft gleichsam die Auswertung der Daten, wo es mehr in Richtung «Data Mining» geht: Wir nutzen Algorithmen, um zu schauen, was uns die Daten sagen – statt klassisch mit einer These oder Hypothese an die Daten heranzugehen und entsprechende Analysen zu machen. Das ist eine grosse Herausforderung für die Soziologie. Auch der Zugang zu den Daten erfordert neue Instrumente: Wir nutzen heute etwa Application Programming Interfaces (APIs) und Schnittstellen, um an Daten, etwa von Twitter, zu kommen. Und: Die grossen Daten gehören oftmals US-amerikanischen Konzernen. Hier fordert uns die Diskussion um Zugangs- und Nutzungsrechte.

Zum Projekt gehörten drei Bereiche. Welche Ergebnisse zeigen sich dort?

Mit Rahel Estermann, Lisa Kressin und Philippe Saner hatte ich ein sehr gutes Team. Alle drei haben ihre Dissertation erfolgreich abgeschlossen und werden im Jahr 2022 Monografien veröffentlichen. Drei verschiedene Felder haben wir uns angeschaut: «Datenjournalismus», «Methoden in der Soziologie» und «Datenwissenschaften». Das Feld der Datenwissenschaften hat Philippe Saner bearbeitet – für seine Doktorarbeit wurde ihm von der Gesellschaft für Hochschulforschung der Ulrich-Teichler-Preis zugesprochen. Saner hat sich mit der Entstehung dieses in der Schweiz noch jungen Feldes beschäftigt. Dafür hat er sich zum Beispiel die Curricula der neu entstandenen Studienprogramme angeschaut oder Stellenausschreibungen für so genannte Data Scientists untersucht. Wie sich zeigt, ist das Feld der Datenwissenschaft ein transversales, wo ganz bestimmte Fähigkeiten gesucht und gefördert werden.

Was wurde hinsichtlich Datenjournalismus untersucht?

Auch dies ist ein Feld, das gerade erst entsteht – auch wenn es schon sehr lange den Versuch gibt, journalistische Berichte visuell zu unterlegen, das heisst, mit Bildern Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel während der Corona- Zeit begleiteten uns solche datenjournalistischen Visualisierungen täglich. Estermann hat sich in zwei datenjournalistische Teams hineingegeben, um herauszufinden, wie diese mithilfe von Daten und deren Visualisierungen Geschichten bzw. Nachrichten produzieren.

Und was ergab die Untersuchung des dritten Bereichs?

Hier hat Lisa Kressin untersucht, welche Methoden in der Soziologie genutzt werden. Das ist ein herausfordernder «Blick auf den eigenen Bauchnabel». Mithilfe vieler Interviews und Dokumente hat sich Lisa Kressin diesem Feld genähert – mit dem Fokus auf die Lehre, also den Unterricht. Was kommt auf einen Vorlesungsplan? Welche Bücher stehen auf der Literaturliste? Kressin hat vier Lehrkulturen festgestellt, die in der deutschsprachigen Soziologie vorkommen. Es zeigt sich eine grosse Spanne, was die Offenheit gegenüber Lehrveranstaltungen zu grossen Daten betrifft.

Welche Rolle kann die Soziologie in der Forschung und Arbeit mit Big Data einnehmen?

Es gibt sehr viele Disziplinen, die fantastisch mit grossen Daten umgehen können. Aber oftmals fehlen dann substanzielle Fragestellungen oder ein Verständnis davon, wie das Soziale strukturiert ist. Hier kann die Soziologie die Rolle einer Brückenbauerin einnehmen.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Zum Beispiel wissen wir seit Langem, dass Frauen aus verschiedenen Gründen auch in gleichen Positionen weniger verdienen als Männer. Das ist eine Information, über die man Kenntnis haben sollte, wenn man einen Datensatz über Einkommen bearbeitet. Wir sorgen darum dafür, dass unsere Studierenden einerseits die richtigen Fragen stellen können und andererseits ein Wissen darüber mitbringen, wie das Soziale strukturiert ist. Damit können sie zum Beispiel im Marketing eines Unternehmens aus der verfügbaren Datenmenge die «Schätze» heraussuchen, diese entsprechend analysieren und interpretieren. So bereichern die Soziologinnen und Soziologen die Zusammenarbeit der involvierten Disziplinen rund um die grossen Daten.

Der schweizweit einzigartige Studiengang LUMACSS kombiniert sozialwissenschaftliches Wissen mit den gefragten Fähigkeiten, grosse Datenmengen computerunterstützt zu erheben und zu analysieren.

Wie fliessen Ihre Forschungsergebnisse in die Lehre ein?

Wir haben an der Universität Luzern in den letzten Jahren bereits zwei wichtige Dinge getan: Zum einen haben wir einen Lehrschwerpunkt zur Digitalisierung an der Kultur und Sozialwissenschaftlichen Fakultät geschaffen, wo wir unter anderem einen fakultätsweiten Kurs für Studienanfängerinnen und -anfänger anbieten, der sich mit der Arbeit mit digitalen Daten beschäftigt. Wir überlegen uns genau, wie wir unsere Studierenden fit machen für einen Arbeitsmarkt, der den Umgang mit digitalen Daten immer stärker verlangt. Wenn es dann heisst: «Machen Sie doch mal eine Analyse unserer Twitter-Follower», dann wissen sie, was zu tun ist. Zum anderen haben wir den interdisziplinären Lucerne Master in Computational Social Sciences (LUMACSS) gegründet. Dieser schweizweit einzigartige Studiengang kombiniert sozialwissenschaftliches Wissen mit den gefragten Fähigkeiten, grosse Datenmengen computerunterstützt zu erheben und zu analysieren. Auch hier gilt, dass der LUMACSS den Dialog bspw. zwischen Sozialwissenschaften und Informatik oder Ingenieurswissenschaften ermöglicht – weil Absolvierende die verschiedenen «Sprachen» sprechen. Dazu fliessen unsere Erkenntnisse natürlich auch in den Studiengang Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften (SoCom; Bachelor/Master) ein.

Welchem Forschungsprojekt widmen Sie sich als nächstes?

Dieses ist bereits am Laufen: Mit «Digital Payments. Making Payments Personal and Social» beschäftige ich mich mit einer weiteren Facette dieser grossen Daten, nämlich mit digitalen Bezahlsystemen. Dabei richten wir den Blick auf die Schweiz und auf Schweden und beobachten zum Beispiel, wie sich soziale Beziehungen mit diesen schleichenden Digitalisierungsprozessen verändern.

«Facing Big Data. Methods and Tools for a 21st Century Sociology» lief von 2017 bis 2021, wurde im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Big Data» (NFP 75) durchgeführt und war mit rund 658'000 Franken an Drittmitteln dotiert.
 

Vera Bender ist freischaffende Texterin sowie Sektionsvorsteherin Kultur- und Sozialwissenschaften der ALUMNI Organisation der Universität Luzern. Das Interview ist im Jahresbericht 2021 der Universität Luzern erschienen.