Für die zunehmenden Datenströme braucht es globale Regeln. Mittels einer EU-Förderung untersucht Mira Burri, ausserordentliche Professorin für Internationales Wirtschafts- und Internetrecht, die Auswirkungen des Datenverkehrs auf das internationale Handelsrecht.

Mira Burri, aussordentliche Professorin für Internationales Wirtschafts- und Internetrecht (per 1. September 2021) (Bild: Silvan Bucher)

Mira Burri, was muss man sich unter digitalem Handel genau vorstellen?

Mira Burri: Handel mit Produkten und Dienstleistungen werden immer öfter digital abgewickelt, dabei geht es nicht nur um Online-Käufe oder Downloads. Auch wenn wir Apps nutzen oder Streaming-Dienstleistungen beanspruchen, steckt Datenverkehr drin, der meist in mehrere Richtungen fliesst. Die Daten werden an verschiedenen Orten gespeichert und verarbeitet.

Sie untersuchen die Folgen auf das globale Handelsrecht. Weshalb?

Das internationale Handelsrecht der Welthandelsorganisation (WTO) stammt von 1994. Damals gab es zwar bereits ein gewisses Mass an Informationstechnologie, doch das Internet war noch jung und die Verhältnisse waren völlig anders als heute. Die Welt war vorwiegend analog. Nun brauchen wir ein Handelsrecht, das einer datengetriebenen Gesellschaft gerecht wird. Die WTO hat zwar seit 1998 versucht, die Auswirkungen der digitalen Technologien auf den Handel zu berücksichtigen – leider ohne Erfolg.

Wie wird denn heute reguliert?

Da auf multilateraler Ebene kein Konsens gefunden wurde, entstanden zahlreiche bilaterale und regionale Freihandelsabkommen zwischen einzelnen Staaten oder Staatsgruppen, die den digitalen Handel regulieren. Die Regelungen sind aber fragmentiert und sehr unterschiedlich. Wenn beispielsweise China betroffen ist, sehen die Regeln ganz anders aus, als wenn die USA oder die EU involviert sind. Die Schweiz hat übrigens bezüglich Regelung des Datenverkehrs fast nichts unternommen – und dies als hochindustrialisiertes, innovationgetriebenes Land. Dienstleistungen und Datenwirtschaft standen bisher zu wenig im Fokus, was durchaus bedauerlich ist, da die Schweiz eine Rolle als Legal Entrepreneur, ähnlich Neuseeland, spielen könnte.

Der Datenverkehr generiert bereits mehr Wert als der traditionelle Warenhandel. Inwiefern fordert dies die Handelspolitik heraus?

Die Herausforderungen sind gross. Einerseits geht es um die Frage des Wirtschaftswachstums und wie innovativ Firmen in Zukunft sein können. Dazu brauchen sie Zugang zu Daten und Sicherheit in Bezug auf die geltenden Regeln. Es muss klar sein, welche Handelshemmnisse es gibt. Datenprotektionismus muss verhindert werden. Andererseits dürfen die Staaten ihre Bürgerinnen und Bürger sowie grundlegende gesellschaftliche Werte schützen.

Die Interessen und die kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich, wie man etwa beim Vergleich EU/USA sehr gut sieht.

Es geht um die Kontrolle von Daten, den Schutz der Privatsphäre und um nationale Sicherheit sowie Zuständigkeitsprobleme, sobald Daten ein Land verlassen. Welche Reibungen ergeben sich daraus?

Die Interessen und die kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich, wie man etwa beim Vergleich EU/USA sehr gut sieht. Die EU und auch die Schweiz verfügen etwa im Bereich Datenschutz über hohe Standards. Seit 2018 ist die EU-Datenschutzgrundverordnung in Kraft, welche die persönlichen Daten der Bürgerinnen und Bürger als Grundrecht schützt. Ganz anders in den USA: Persönliche, auch zum Teil sensible Daten sind dort viel weniger geschützt. Es geht mehr darum, die Bürger vor staatlicher Intervention zu bewahren. Daten werden als Ware behandelt und ein liberaler wirtschaftsorientierter Umgang damit gefördert. Dennoch sind die USA und die EU beide interessiert an möglichst freien Datenflüssen. Das EUUS-Privacy-Shield-Abkommen, das etwa amerikanische Firmen auf freiwilliger Basis verpflichtet hat, die hohen EUStandards zu respektieren, konnte das Dilemma zwischen den beiden Kulturen nicht lösen und wurde vom Europäischen Gerichtshof für ungültig erklärt. Das regulatorische
Dilemma zwischen dem hohen Bürgerschutz und freiem Handel bleibt und findet sich im Kern aller wichtigen Fragen des adäquaten Designs des globalen Handelsrechts.

Sie untersuchen in den nächsten fünf Jahren drei Bereiche; beim ersten geht es um die Auswirkungen, die der digitale Wandel auf die in- und ausländischen Regulierungen des digitalen Handels hat. Wie gehen Sie da vor?

Wir betrachten einzelne Regelungen und schauen, was für Anpassungen bereits getätigt wurden. Und wir prüfen, welche Auswirkungen die bestehenden Regelungen auf den digitalen Handel haben. Da helfen uns die Daten, die wir bereits aus dem im Jahr 2017 gestarteten Projekt «The Governance of Big Data in Trade Agreements» als Teil des Nationalen Forschungsprogramms 75 «Big Data» haben. Wir haben alle 353 Abkommen durchgearbeitet und festgehalten, welche Auswirkungen sie auf die Datenwirtschaft haben.

Was ersehen Sie daraus bereits?

Die Aufstellung ist sehr hilfreich: Wir erkennen, wo wir heute stehen, wie die regulatorische Landschaft sich entwickelt hat und welche politischen und wirtschaftlichen Faktoren eine Rolle gespielt haben. Und wir können die verschiedenen Modelle verfolgen. Etwa dasjenige nun sehr verbreitete der USA, das zu freien Datenflüssen verpflichtet und die Lokalisierung von Daten verbietet. Solche Regelungen reduzieren den innenpolitischen Raum und erlauben keine oder nur wenige Massnahmen zum Schutz wichtiger nationaler Interessen. Dies steht klar im Widerspruch zu den Bestrebungen anderer Staaten wie denjenigen der EU oder der Schweiz.

Das Buch «Big Data and Global Trade Law» (Cambridge) erscheint demnächst – welche Erkenntnisse liefert es?

Es geht darin um die Effekte von «Big Data» als Inbegriff der datengetriebenen Gesellschaft auf das Handelsrecht. Wir haben dabei auch die Sichtweisen verschiedener Staaten betrachtet und das Zusammenspiel der existierenden Regelungen im Handels-, Datenschutz- und Immaterialgüterrecht. Es ist ein Versuch, herauszufinden, in welche Richtung die politischen Strategien gehen müssen. Es soll eine hilfreiche Orientierung in der komplexen Materie bieten.

Die Rolle von digitalen Plattformen wie Facebook, Twitter oder Google ist sehr wichtig geworden. Diese sind im Moment nicht stark reguliert.

Einerseits ist Schutz gefragt: des Einzelnen, aber auch eines Staates. Andererseits ist Wirtschaftsfreiheit nötig, damit der digitale Handel sich entwickeln kann. In einem zweiten Bereich untersuchen Sie, wie dieses Regulierungsdilemma bewältigt werden könnte ...

In einzelnen Handelsabkommen gibt es bereits Mechanismen, die Staaten erlauben, ihre Rechte und die ihrer Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Es ist aber unsicher, ob diese Modelle gut funktionieren und eine Basis bieten, um den Konflikt zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Interessen zu bewältigen. Hier gilt es unbedingt Lösungen zu finden. Freihandel versus Datenschutz, aber auch andere Aspekte, wie etwa der Schutz der Meinungsfreiheit, sollen berücksichtigt werden. Diesbezüglich ist die Rolle von digitalen Plattformen wie Facebook, Twitter oder Google sehr wichtig geworden. Diese sind im Moment nicht stark reguliert. Die EU möchte dies ändern und etwa die Bekämpfung von Fake News vorantreiben. Es geht darum, passende rechtliche Mechanismen zu finden und den Staaten genügend Raum zu lassen, um die Rechte ihrer Bürgerinnen zu gewährleisten.

Schliesslich möchten Sie ein Design für ein globales digitales Handelsrecht entwerfen. Wie könnte dieses aussehen?

Indem wir alle Informationen zusammentragen und viele Fallstudien auswerten, hoffen wir, daraus Folgerungen machen zu können, die uns erlauben, einen Entwurf für ein zukunftsorientiertes Handelsrecht, das die Besonderheiten einer datengetriebenen Gesellschaft reflektiert, zu kreieren. Es wird sich sicher nicht um ein einzelnes Abkommen handeln, sondern um ein Netzwerk verschiedener Lösungen. Darin werden auch weiterhin bilaterale und regionale Abkommen nötig bleiben, die als eine Art Experimentalräume für neue Regelungen funktionieren. Insgesamt geht es um ein komplexes Netzwerk von Abkommen, das die verschiedenen Interessen der Länder einbezieht. Rechtstechnisch ist es wichtig, die Normen so zu formulieren, dass sie auch künftige technologische Fortschritte, wie etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz, antizipieren können.

Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

Innerhalb der EU spricht man momentan von einer Bewahrung der digitalen Souveränität – ein Verweis auf das klassische Konzept des Völkerrechts, wonach jeder Staat innerhalb seines Territoriums Handlungsfreiheit hat. In einer digitalen Umgebung funktioniert das anders. Wenn etwa die USA ihre Regeln in Bezug auf digitale Unternehmen oder sogar private Akteure wie Facebook ihre Algorithmen ändern, hat dies oft Auswirkungen auf die ganze Welt. Deshalb ist es nicht mehr so einfach für einen Staat, seine Bürger schützen. Darum ist die Frage zentral, wie man einerseits einen funktionierenden Handel ermöglichen und gleichzeitig den Schutz einzelner Staaten und ihrer Bewohner gewährleisten kann. Dazu möchten wir unseren Beitrag leisten.

Das von Professorin Burri geleitete Projekt «Trade Law 4.0» wird mit einem Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) in der Höhe von 1,6 Mio. Euro gefördert. Mira Burri ist die erste Forschende der Universität Luzern, die einen Consolidator Grant des ERC einwerben konnte (frühere Newsmeldung).

Das Interview wurde im Rahmen des Jahresberichts 2020 der Universität Luzern von Robert Bossart, freischaffender Journalist, geführt und vor dem Hintergrund der Auszeichnung von Professorin Burri mit dem Anerkennungspreis des Luzerner Regierungsrats am 8. Juni 2021 vorabpubliziert (Newsmeldung).