Peter G. Kirchschläger, Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik (ISE), antwortet.

(Bild: Silvan Bucher)

Diktatoren verletzen Menschenrechte. Manche Konzerne stellen Profit über Menschenrechte. Illiberale Strömungen in allen Religionen meinen, dass Menschen an der Kirchentür, am Eingang zum Tempel, zur Synagoge oder zur Moschee ihre Menschenrechte abgeben. Diesen Angriffen auf die Menschenrechte ist entgegenzuhalten, dass alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind – immer und überall. Diese universelle Geltung der Menschenrechte ist ethisch begründbar. Und hier kommt die Verletzbarkeit der Menschen ins Spiel:

Menschen können sich erstens in ihrer eigenen Verletzbarkeit wahrnehmen. Der gesunde Mensch zum Beispiel weiss, dass er morgen krank werden könnte. Während dieses Bewusstseinsbildungsprozesses eröffnet sich zweitens dem Menschen die «Erste-Person-Perspektive» und das «Selbstverhältnis». Erstere umfasst die Wahrnehmung des Menschen, dass er seine Verletzbarkeit als das Ich-Subjekt erlebt, das heisst als die erste Person Singular. Niemand anders erlebt das Leben eines Menschen so, wie er oder sie selbst. Das Selbstverhältnis bedeutet, dass sich der Mensch auf sich selbst beziehen kann. Die Verletzbarkeit wird drittens vom Menschen ebenfalls für die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis wahrgenommen. Denn wenn Menschen beispielsweise sterben, enden die Erste-Person-Perspektive» und das Selbstverhältnis. Viertens wird dem Menschen klar, dass nicht nur er selbst, sondern alle Menschen verletzbar sind. Dies ermöglicht Menschen fünftens die Bewusstwerdung, dass sie mit allen anderen Menschen auch die je individuelle Erste-Person-Perspektive sowie das je individuelle Selbstverhältnis teilen.

Die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis erkennt der Mensch so als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch. Der Mensch wird sich bewusst, dass auch diese Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch verletzbar ist. Angesichts seiner Verletzbarkeit will der Mensch primär überleben und als Mensch leben. Da sich der Mensch seiner Verletzbarkeit bewusst ist, gleichzeitig aber nicht weiss, ob und wann seine Verletzbarkeit zu einer Verletzung wird und wie schlimm diese Verletzung wäre, entfaltet sich sechstens die folgende Bereitschaft: Es ist für ihn die vorteilhafteste und klügste Lösung im Dienste seines Eigeninteresses, sich selbst und allen Menschen die Erste-Person-Perspektive und das Selbstverhältnis mit Rechten, die allen Menschen zustehen, zuzusprechen. Denn der Mensch weiss nicht, ob er selbst wird helfen müssen oder Hilfe brauchen wird. Dieser Menschenrechtsschutz zielt darauf ab, eine Transformation von Verletzbarkeit zu einer Verletzung zu verhindern (etwa das Folterverbot) beziehungsweise im Falle einer Verletzung aktive Kompensation zu erfahren – zum Beispiel im Falle von Krankheit durch das Menschenrecht auf Zugang zu medizinischer Versorgung. So sorgt die Verletzbarkeit der Menschen dafür, dass diese sich für Menschenrechte aussprechen.

Es handelt sich um die Beantwortung der im Rahmen des Jahresberichts 2021 der Universität Luzern gestellten Frage.

Peter G. Kirchschläger

Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik (ISE)
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