Die Wahrnehmung, «abgehängt» zu sein, geht in ländlichen Regionen häufig mit Unmut gegenüber der Stadtbevölkerung und einer Offenheit für rechtspopulistische Politik einher. Nun zeigt sich für die Schweiz: Es geht auch um einen «Wissensgraben».
Beim vielfach geltend gemachten politischen Riss in den USA spielt der ländliche Groll gegen die «Elite», die in den Städten verortet wird, eine bedeutende Rolle: Im Kern ist das die These, welche Katherine J. Cramer in ihrem vielbeachteten Buch «The Politics of Resentment» (2016) vertritt. Die US-Politologin untersuchte am Fall des ländlichen Wisconsin, wie rurale Identität und Gefühle der Benachteiligung die Politik beeinflussen. Dies treffe insofern zu, als jene Gefühle dazu führten, politisch mit rechtspopulistischen Strömungen zu sympathisieren – also mit solchen Politikerinnen und Politikern, die angeben, die Anliegen des «kleinen Mannes» zu vertreten, und lautstark und polemisch jene als arrogant und dekadent dargestellte «Elite» anprangern.
Ein Forschungsteam unter der Leitung von Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft, beschäftigt sich seit bald vier Jahren damit, inwiefern Cramers These auch auf Schweizer Verhältnisse anwendbar ist respektive wie die Thematik für hiesige Begebenheiten wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann. Das vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekt mit dem Titel «Populism as Peripheral Resentment?» befindet sich mittlerweile in der Schlussphase – Zeit für einen Blick in die «Forschungsküche» von Blatter und seinen Projektmitarbeitern Johannes Schulz und Maurits Heumann.
Joachim Blatter, mit welchem Forschungsstand – neben der bereits erwähnten Studie von Katherine J. Cramer – waren Sie zu Beginn Ihres Projekts konfrontiert?
Joachim Blatter: Die bisherige Forschung hat drei Erklärungsansätze für den in praktisch allen Ländern feststellbaren überdurchschnittlichen Erfolg rechtspopulistischer Parteien auf dem Land: ökonomische Benachteiligung, kulturelle Marginalisierung und politische Untervertretung. In der Schweiz sind diese Faktoren, gemessen an objektiven Kriterien, für den Erfolg der SVP und anderer rechtspopulistischer Parteien wie der Lega dei Ticinesi allerdings wenig plausibel.
Inwiefern nicht?
In der Schweiz gibt es keine grösseren ökonomisch abgehängten Räume, wie wir das zum Beispiel in gewissen Gegenden der USA oder in Ostdeutschland finden. Politisch sind ländliche Regionen nicht unter-, sondern überrepräsentiert. Ständerat und Ständemehr sorgen dafür, dass die ländlichen Interessen meist sehr gut zur Geltung kommen. Kulturell erleben wir zwar schon eine Transformation von Werten, aber ländliche Werte – wie zum Beispiel die Naturverbundenheit – sind weiterhin sehr zentral, und die Berge bestimmen das kulturelle Selbstbildnis der Schweiz.

Das heisst, Sie haben beim Start der Studie erwartet, dass in der Schweiz andere gesellschaftliche Entwicklungen ablaufen als im Rest von Europa und in den USA?
Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien und der starke Stadt-Land-Gegensatz bei Wahlen und Abstimmungen sind vor diesem Hintergrund zunächst einmal ein Rätsel, dem wir auf den Grund gehen wollten.
Maurits Heumann: Von Katherine J. Cramer durchgeführte Gruppengespräche zeigten, dass die Menschen in Wisconsin eine Art von Groll gegenüber den Städterinnen und Städtern hegen. In Abgrenzung zu den in der quantitativen Forschung dominierenden objektiven Erklärungsansätzen wählte sie einen subjektiven Zugang, der die ländlichen Identitäten der Teilnehmenden berücksichtigt. Diese bestehen relativ unabhängig von den objektiven Bedingungen und können die Wahrnehmung und das politische Verhalten von Personen bestimmen. Cramer spricht in diesem Zusammenhang von «rural consciousness», also einem ländlichen Bewusstsein.
Sie haben ebenfalls Gruppengespräche durchgeführt und analysiert – und zwar in deutschsprachigen ländlichen Gemeinden. Wie sind Sie vorgegangen?
Wir suchten die Gemeinden mithilfe des «Statistischen Atlas» des Bundes aus, indem wir zwei Dorf- oder Gemeindetypen bildeten: Erstens Dörfer, in denen zwar immer mehr Leute wohnen, die aber häufig ausserhalb arbeiten und nicht am Dorfleben teilnehmen – sogenannte Schlafdörfer. Zweitens, Dörfer, die unter Abwanderung und Leerstand leiden – sogenannte Schrumpfdörfer. Die Teilnehmenden fanden wir, indem wir in den Gemeinden Flyer verteilten, Vereine anschrieben und persönlich nach dem Zufallsprinzip Einwohnerinnen und Einwohner brieflich einluden. Für die Gruppengespräche trafen wir uns in der lokalen Beiz, wo wir mithilfe eines Leitfadens über das Verhältnis zwischen Stadt und Land diskutierten. Für die Auswertung kodierten wir das gesamte Material mehrfach durch und diskutierten es im Team immer wieder.
Sie haben eingangs erwähnt, dass die Erklärungsmuster von Cramer in der Schweiz nicht plausibel scheinen. Welches Fazit haben Sie aus den Gesprächen auf dem Land gezogen?
Blatter: Wir stellten fest, dass wir neben den ökonomischen, politischen und kulturellen Aspekten eine weitere Dimension heranziehen müssen, um die ländliche Aversion gegenüber Städterinnen und Städtern in der Schweiz besser verstehen zu können: Wir nennen das die epistemische Dimension. In der ländlichen Bevölkerung finden wir eine Wahrnehmung, gemäss der die städtische Bevölkerung beziehungsweise die an den städtischen Universitäten ausgebildeten Eliten in Politik und Verwaltung das «ländliche» Wissen immer weniger anerkennen. Ein solches ländliches Wissen basiert eher auf der Erfahrung, die man selber vor Ort und in der Praxis gemacht hat, während das städtische Wissen mit dem Wissen spezialisierter Experten gleichgesetzt wird.
Immer wieder wurde betont, dass die Land- näher als die Stadtbevölkerung an der Natur dran sei und deshalb auch ein besseres Verständnis von dieser habe.
Wie haben Sie das «Wissen» von der «Kultur» unterschieden?
Heumann: In der Forschung wird die kulturelle Dimension mit Lebensstilen und Werten gleichgesetzt. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es unseren Studienteilnehmenden um etwas anderes geht. Immer wieder betonten sie zum Beispiel, dass die Landbevölkerung näher an der Natur dran sei als die Stadtbevölkerung und deshalb auch ein besseres Verständnis von dieser habe.
Also eine geografische Nähe?
Aus der geografischen Nähe zur Natur wird ein epistemischer Anspruch abgeleitet. Wenn man in und mit der Natur arbeitet, dann geht man davon aus, besser zu wissen, wie man die Natur behandeln muss bzw. wie man sie sinnvoll schützen und bewahren kann. In ähnlicher Weise wird argumentiert, dass sich aus der praktischen Arbeit auf dem Land ein Wissen ergibt, welches dem Wissen, das in den städtischen Büros entsteht, mindestens ebenbürtig ist, aber nicht mehr anerkannt wird.
Blatter: Der qualitative Zugang zeigte damit wieder einmal seine besonderen Qualitäten. Es existieren unzählige quantitative Studien, die Cramers Konzept benutzt und reproduziert haben. Mit unserem qualitativen Ansatz konnten wir darüber hinausgehende Erkenntnisse gewinnen. Es geht auch um Wissenskonflikte – also um die Frage, welche Formen von Wissen beziehungsweise Wissensgenerierung als valide wahrgenommen werden und welche nicht.

Immer wieder wird bestritten, dass es den Stadt-Land-Graben überhaupt gibt.
Heumann: Der «Stadt-Land-Monitor» von Sotomo zeigt zum Beispiel, dass sich der Graben bei Abstimmungen vor allem bei Umwelt- und Klimainitiativen auftut – auch ein Zusammenhang, der unserer Meinung nach durch die epistemische Dimension des «rural consciousness» besser verstanden werden kann. So handelt es sich hier ja um wissensintensive Politikfelder, bei denen die Gegenüberstellung von ländlichem Erfahrungswissen und städtischem Expertenwissen besonders virulent ist.
Der Stadt-Land-Graben müsste ja auch in der Stadt ein Thema sein. Haben Sie diese Perspektive ebenfalls abgeholt?
Ja, wir führten auch drei Gespräche in Zürich durch. Diese haben wir aber noch nicht systematisch ausgewertet. Eine erste interessante Beobachtung ist: Während Wissensansprüche in unseren Gruppengesprächen auf dem Land mit der eigenen geografischen und epistemischen Nähe zur Natur begründet wurden, fanden wir in den Stadtgesprächen ein ähnliches Argumentationsmuster. Hier ging es jedoch um die städtische Nähe zur kulturellen Vielfalt, die der Landbevölkerung fehle. Auch hier erfolgten aus dieser Nähe oder Distanz zur Kultur Ableitungen darüber, an welchen Orten das validere Wissen zu finden ist.
In Cramers Buchtitel wie auch im Namen Ihres Projekts kommt «Resentment» vor. Im philosophisch-theoretischen Teil des Projektes setzen Sie sich intensiv mit diesem Begriff auseinander. Sie unterscheiden auch zwischen «Resentment» und «Ressentiment». Was macht den Unterschied aus?
Blatter: Der Philosoph in unserem interdisziplinären Team, Johannes Schulz, kontrastiert den Begriff des Resentment, wie er von Cramer benutzt wird, mit dem in der Philosophie etablierten Begriff des Ressentiments. Diese beiden Emotionen verkörpern unterschiedliche Reaktionen darauf, dass Erwartungen enttäuscht werden. Wenn es etwa bei Abstimmungen passiert, dass die Erwartung der ländlichen Bevölkerung, dass ihre Werte und Interessen im politischen Prozess Berücksichtigung finden, nicht erfüllt wird, und dies als ungerecht empfunden wird, führt das zu Resentment. Beim Ressentiment geht dieses Ungerechtigkeitsempfinden aber weiter bis hin zum Wunsch nach Rache. Weil man glaubt, dass Städterinnen und Städter die ländliche Bevölkerung als «zurückgeblieben» einstufen und damit abwerten, wertet man nun seinerseits die Städter und ihre Verhaltensweisen ab.
Heumann: Wir glauben, dass Resentment und Ressentiment zwei unterschiedliche Phänomene darstellen, die bis jetzt nicht hinreichend auseinandergehalten werden. Resentment kann zum Beispiel Anlass für verstärktes politischen Engagement geben. Wir sollten nicht ignorieren, dass sich mit dem zunehmenden Populismus die Wahlbeteiligung wieder erhöht hat. Von Ressentiment getragen, nimmt dieser aber destruktive Formen an. Die Problematik zeigte sich in unserer Studie beispielsweise beim Thema Jagdgesetz. Mehrere Teilnehmende äusserten den hämischen Wunsch, ein Wolf solle einmal das Hündchen eines Städters fressen.
In unserem Forschungsteam waren sehr viele Gespräche notwendig, um sich immer wieder über disziplinäre Grenzen hinweg zu verständigen – das macht aber auch Spass.
Sie haben einen interdisziplinären Ansatz verfolgt. Weshalb?
Blatter: Ich bin sehr an konzeptioneller Grundlagenarbeit interessiert, und da erschien es sinnvoll, mit Johannes Schulz, der leider verhindert ist und nicht an diesem Interview teilnehmen kann, einen Philosophen ins Boot zu holen, der die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften hinterfragt. Andererseits habe ich mehrere Methodenbücher zur qualitativen Sozialforschung geschrieben. Leider gibt es in der Schweiz kaum Politologinnen und Politologen, die qualitativ arbeiten. Mit Maurits Heumann wiederum stiess ein Soziologe zum Team, der bereits intensiv mit qualitativen Methoden gearbeitet hatte.
Welche Herausforderungen sind Ihnen in diesem interdisziplinären Team begegnet?
Es waren sehr viele Gespräche notwendig, um sich immer wieder über disziplinäre Grenzen hinweg zu verständigen. Das macht aber auch Spass; schwierig wurde es aber, als es dann darum ging, die Erkenntnisse in angesehenen Zeitschriften zu veröffentlichen. Diese sind disziplinär und spezialisiert – fachgrenzenübergreifende Zugänge haben es dadurch sehr schwer.
Gefährdet Ihrer Meinung nach der Stadt-Land-Graben unsere Demokratie?
Die Demokratie, die in der Schweiz der ländlichen Bevölkerung ja sehr grossen Einfluss gewährt, wird auch von denen nicht infrage gestellt, die sich über städtische Eliten empören. In anderen Ländern trägt dieser Graben aber deutlich zur Destabilisierung der liberalen Demokratie bei.
Planen Sie weitere Untersuchungen zur Thematik?
Ende September haben wir vom Schweizerischen Nationalfonds ein zweites Projekt bewilligt bekommen, das wir zusammen mit Lukas Haffert von der Universität Genf durchführen werden. Darin wollen wir unter anderem untersuchen, ob sich die Schweizer Befunde zur epistemischen Dimension auch auf Ostdeutschland anwenden lassen, eine Region, die tatsächlich als abgehängt und peripher bezeichnet werden kann. Sind Wissenskonflikte auch in diesem Kontext zu finden, würde das unsere konzeptuelle Erweiterung der «rural consciousness» weiter validieren – falls nicht, hätten wir es mit einer Eigenheit des Schweizer Falls zu tun.
Heumann: Wir werden quantitative Messinstrumente entwickeln, mit denen wir testen können, inwieweit sich unsere qualitativ gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinern lassen. Mit repräsentativen Umfragen wollen wir herausfinden, wie viel die epistemische Dimension des «rural resentment» dazu beitragen kann, das schwindende Vertrauen in die Politik sowie das Wahlverhalten in der Schweiz und in Deutschland zu erklären.
Frühere Newsmeldung zur Einwerbung des Nationalfonds-Projekts
