Recht kann Freiheit sichern – oder einschränken. In Zeiten politischer Umbrüche sind rechtsphilosophische Fragen aktueller denn je. In seiner hier verorteten Dissertation untersuchte Severin Schnurrenberger die Grundlagen von Recht und Herrschaft.

Dr. des. Severin Schnurrenberger, wissenschaftlicher Oberassistent an der Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht

Severin Schnurrenberger, wie kamen Sie zu diesem Thema?

Severin Schnurrenberger: Mein Interesse galt schon immer den Zusammenhängen von Recht und Herrschaft. Historisch betrachtet gibt es Brüche in der Art und Weise, wie Rechts- und Herrschafts­systeme funktionieren. Ein markanter Einschnitt beginnt mit der Reformation im 16. Jahrhundert, die ich als eine Art Revolution betrachte. Seitdem folgten zahlreiche Umbrüche und Revolutionen, die unsere heutigen Rechts- und Herrschaftsvorstellungen prägten. Mich interessierte, wie sich das Nachdenken über Recht und Herrschaft vor und nach diesen revolutionären Umbrüchen unterschied.

In Ihrer Arbeit vergleichen Sie dabei die Denkansätze von Bartolomé de Las Casas (1484–1566), einem Theologen-Juristen, und Max Weber (1864–1920), einem Rechtssoziologen. Weshalb wählten Sie diese beiden Denker?

Aus einem einfachen Grund: Weber wird bis heute meiner Meinung nach am häufigsten rezipiert, wenn es um Herrschaft geht. Er lebte in der Zeit nach der Konsolidierung der modernen europäischen Nationalstaaten – perfekt geeignet also für mein Ansinnen. Als Vergleichsperson brauchte ich jemanden, der möglichst knapp vor diesen revolutionären 300 Jahren lebte, ebenfalls sehr einflussreich war und dessen Denken jenes von Max Weber nicht beeinflusste. Weber war allerdings ein Universalgelehrter mit enormem historischem Wissen. Da bot sich Las Casas an. Seine rechtsphilosophischen Schriften waren in Europa zur Lebenszeit von Weber nicht weit verbreitet, obschon Bartolomé de Las Casas sehr einflussreich war. Zudem waren beide nicht nur Denker, sondern auch praktisch engagiert: Las Casas als Anwalt der Indios, Weber als Politiker, der am Entwurf der Weimarer Verfassung mitwirkte.

Welche Ansätze verfolgten die beiden in Bezug auf Recht und Herrschaft?

Las Casas unterscheidet basierend auf Natur- und Völkerrecht zwischen legitimer, vernünftiger Herrschaft und unvernünftiger, gewaltsamer Tyrannei. Er sieht das kanonische Recht als Vorbild, da in diesem beispielsweise Entscheidungen von allen gebilligt werden müssen, und überträgt dieses demokratische Prinzip auf den Staat und das Völkerrecht im 16. Jahrhundert. Ähnlich analysiert Weber Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die asymmetrisch sind und Legitimität erfordern, wenn sie stabil sein wollen. Die Westkirche und das kanonische Recht prägten westliche politische und gesellschaftliche Strukturen, indem sie eine rationale, berechenbare Rechtsordnung entwickelte. Diese Entwicklung resultierte aus Spannungen zwischen Amtscharisma und Mönchtum sowie zwischen Kirche und Staat und führte beispielsweise zur Trennung von Theologie und Rechtswissenschaften.

Die Westkirche und das kanonische Recht prägten westliche politische und gesellschaftliche Strukturen, indem sie eine rationale, berechenbare Rechtsordnung entwickelte.
Severin Schnurrenberger

Somit gibt es Gemeinsamkeiten?

Beide verbanden etwa die Idee, dass Recht für alle gelten soll, die «rule of law» mit Rationalität: Las Casas wertend, Weber eher beschreibend. Das ist heute besonders relevant, denn wir beobachten weltweit eine Verschiebung der «Herrschaft des Rechts» hin zu «Herrschaft durch Recht». Die Entwicklungen in den USA sind dafür ein besonders prominentes Beispiel.

Gab es eine Erkenntnis aus Ihrer Forschung, die Sie besonders überraschte?

Wie eingangs erwähnt, nahm ich an, dass Weber Las Casas und sein Denken nicht kannte. Vor wenigen Jahren wurde ein Mammut-Projekt beendet, das die historisch-kritische Gesamtedition aller Schriften inklusive Briefen und Vorlesungsnotizen von Max Weber umfasst. Dank dieser Gesamtausgabe stellte ich im Laufe der Forschung fest, dass Weber Las Casas durchaus kannte und ihn in einer seiner Vorlesungen erwähnte.

Weshalb ist dies eine so wichtige Erkenntnis?

Das ist vor allem innerhalb dieses spezifischen Forschungsprojekts eine wichtige Erkenntnis. Denn das Forschungsdesign war so angelegt, dass der eine das Rechts- und Herrschaftsdenken des anderen nicht kennen sollte. Diese Vorlesungsnotizen hatten also das Potenzial, das Projekt begraben zu können. Glücklicherweise zeigte sich, dass Weber Las Casas vor allem als historische Figur kannte, der sich gegen die Indiosklaverei einsetzte – und nicht die rechts- und herrschaftsphilosophischen Schriften von Las Casas studiert hatte. Er kannte ihn vor allem aus Sekundärliteratur.

Welche Relevanz haben Las Casas und Weber für unser heutiges Rechtsverständnis?

Las Casas wird als «Urvater der modernen Menschenrechte» betrachtet, der die Freiheit des Individuums betonte. Er argumentierte mit kanonischem und römischem Recht und forderte, dass alle von einer Entscheidung Betroffenen ihr zustimmen müssen – ein Prinzip, das gemäss dem kanonischen Recht etwa bei Bischofseinsetzungen zum Zuge kommt. Im demokratischen Verständnis konnte sich allerdings die Zustimmung der Mehrheit mittlerweile durchsetzen. Weber auf der anderen Seite gilt als Denker der Moderne, mit dem zum Beispiel die modernen Sozial- und Geisteswissenschaften seinen Anfang nahmen. In Bezug auf die Entstehung des modernen Rechtsdenkens aus dem kirchenrechtlichen Denken des Mittelalters betonte er etwa die Bedeutung von Korporationen für das Rechtsverständnis und die moderne Gesellschaftsstruktur.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus Ihrer Arbeit?

Am Schluss der Monografie habe ich sechs zentrale deskriptive Thesen formuliert und daraus sechs normative Fragen für die Gegenwart abgeleitet. Eine Herausforderung heute ist etwa die zunehmende Komplexität der Rechtsordnung. Wie kann sichergestellt werden, dass auch Laien und Laiinnen Zugang zu relevanten rechtlichen Informationen haben? Zudem stelle ich die Frage, ob es rechtsphilosophische Grundsätze gibt, die grundsätzlich im Positiven Recht zu verankern wären.

Ohne Rechtsordnung haben wir keine Freiheit, sondern Unrecht und Willkür.

Ihre Doktorarbeit konnten Sie letztes Jahr erfolgreich abschliessen. Geht Ihre Forschung noch weiter?

Ja, die Dissertation und damit die Forschung in diesem konkreten Projekt ist abgeschlossen. Aber die Reflexion über Recht, Herrschaft und Gerechtigkeit endet nie. Wer sich erst einmal mit diesen Themen befasst, stellt sich fortlaufend neue Fragen.

Zum Schluss: Was bedeutet «Recht» für Sie?

Das ist eine schwierige Frage. Recht wird oft als Einschränkung empfunden. Etwas, das einem in seinem Handlungsspielraum beschränkt – und ohne das vieles besser wäre. Meiner Meinung nach kommt es auf das Rechts- und Herrschaftssystem an. Gewiss gibt es solche Systeme, welche die Einzelperson oder die Freiheit vor allem einschränken. Aber Recht kann auch Bedingung für Freiheit sein, wie es der vor 301 Jahren geborene Kant einst sah. Ich würde sogar sagen, ohne Rechtsordnung haben wir keine Freiheit, sondern Unrecht und Willkür. Das ist der grosse Unterschied. Man muss sich auch persönlich also die Fragen stellen: Möchte ich lieber in einem Rechts- oder Unrechtssystem leben? Und wie soll dieses aussehen? Von akademischer Seite her braucht es dazu rechts­philosophische Auseinandersetzungen, welche im Optimalfall aus verschiedenen Perspektiven versuchen, normative und deskriptive Erkenntnisse ergänzend zusammenzudenken.
 

Severin Schnurrenberger
Las Casas – Max Weber. Ein rechtsphilosophischer Vergleich in vier Sätzen
Reihe Studien zu Religion, Philosophie und Recht, Band 9
Nomos, Baden-Baden 2025 (im Erscheinen)

Mehr Informationen (Verlags-Website)


Das Interview ist im Jahresbericht 2024 der Universität Luzern erschienen.

Martina Kumli

Mitarbeiterin Kommunikation, Marketing und Wissenstransfer an der Theologischen Fakultät.