Flurina Bezzola studiert Kulturwissenschaften. Die 33-Jährige aus Pontresina (GR) meistert ihr Studium mit Legasthenie und ADHS.

Flurina Bezzola. (Bild: Roberto Conciatori)

Flurina Bezzola, weshalb haben Sie sich für die Universität Luzern und Ihre Studienrichtung entschieden?

Flurina Bezzola: Ich habe mich für ganz verschiedene Gebiete – zum Beispiel Geschichte, Soziologie, Philosophie – interessiert, deshalb bin ich hängengeblieben, als ich online auf die interdisziplinären Studiengänge diverser Unis gestossen bin. Für Luzern hat schliesslich die Mischung der Studienfächer gesprochen, die ich mit Kulturwissenschaften vereinen konnte.

Hatten Sie irgendwelche Ängste vor dem Studienbeginn?

Ängste würde ich nicht sagen, aber Respekt – gerade auch im Wissen um meine Schwächen. Dass ich aufgrund der Legasthenie viele Kommilitonen und Kommilitoninnen würde bitten müssen, meine Arbeiten zu korrigieren, war mir klar. Genauso, wie ich hoffte, dass die Rechtschreibung bei den Prüfungen nicht allzu stark ins Gewicht fällt. Ich habe mich andererseits aber sehr auf das Studium gefreut. Ich wollte das unbedingt, und habe dafür viel investiert und den ganzen zweiten Bildungsweg durchlaufen, was nicht immer einfach war. Das hat mir aber auch viel Selbstvertrauen gegeben.

Was wollen Sie nach dem Studium machen?

Ich könnte mir vorstellen, in Richtung Journalismus zu gehen – Radio oder Video, wohlgemerkt. Auch eine Tätigkeit beim Bund, zum Beispiel beim Amt für Migration, oder – mit meinem Studium – eine als Museumskuratorin wären auf meiner Wunschliste. Ich hoffe auf ein Praktikum nach dem Bachelor, und darauf, dass ich aus den Erfahrungen meiner freiwilligen Arbeit bei einer NGO und meiner politischen Aktivität schöpfen kann.

Was sind für Sie die grössten Hürden im Studium, gerade mit Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Störung) und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung)?

Einerseits die Vorträge, weil ich jemand bin, der sich – vielleicht auch wegen meiner ADHS- Erkrankung – schlecht konzentriert und auf den letzten Drücker arbeitet. Dann Leute zu finden, die abends noch Zeit haben, sich meine Präsentationen oder Handouts anzuschauen und zu korrigieren, ist dementsprechend nicht leicht. Oft habe ich meine Eltern gefragt oder es einfach so abgegeben. Ich wurde dann schon von Dozierenden auf die Fehler aufmerksam gemacht und musste Unterlagen zum Teil neu schreiben. Die andere grosse Hürde sind die Textmengen, die bei vielen Seminare verlangt werden. Mein Lesetempo stellt mich da schon vor grosse Herausforderungen, da ich als Legasthenikerin wirklich Wort für Wort langsam lesen muss. Teilweise habe ich solche Veranstaltungen, obwohl ich sie eigentlich interessant fand, wieder abgewählt. Neben der Textmenge ist es schlicht und einfach das Schreiben, welches ein fester Bestandteil des Studiums ist und eine Person mit Legasthenie natürlich vor grosse Probleme stellt. Gerade auch bei Prüfungen, wo es keine Möglichkeit gibt, den Text korrigieren zu lassen – oft sind diese dann voller Fehler, was sich nicht gerade positiv auswirkt.

Normalerweise muss ich als ADHS-Person sehr darauf achten, dass ich nicht ständig und zu viel rede. An der Universität scheinen sich die Dozierenden aber meistens über meine Beiträge zu freuen.

Was war die positivste/negativste Erfahrung Ihres bisherigen Studiums?

Mehrmals negative Erfahrungen habe ich mit den Seminararbeiten gemacht. Das geht vielleicht eher in Richtung Hürden. Ich hatte beim Schreiben riesige Probleme mit der Konzentration, war schnell abgelenkt und kam oft lange nicht vorwärts. Sehr positiv war für mich, dass ich eine Schwäche in Stärke umwandeln konnte: Normalerweise muss ich als ADHS-Person sehr darauf achten, dass ich nicht ständig und zu viel rede. An der Universität scheinen sich die Dozierenden aber meistens über meine Beiträge zu freuen, besonders, wenn die anderen Seminarteilnehmenden gerade nicht sehr aktiv sind.

Wie reagieren Mitstudierende oder Dozierende auf Ihre Beeinträchtigung?

Ich gehe nicht von mir aus auf die Dozierenden zu, um ihnen mitzuteilen, dass ich diese Beeinträchtigung habe. Nur wenn ich negative Rückmeldungen bekomme, eben zum Beispiel auf Handouts, erkläre ich, dass ich Legasthenikerin bin. Geholfen hat das, glaube ich, nicht viel, da das Schreiben bzw. das Schreibenkönnen zum Studienalltag gehört und sie auf mich nicht viel Rücksicht nehmen können. Gegenüber den Mitstudierenden bin ich offener, bei Gruppenarbeiten etwa erwähne ich das von Anfang an. Die Personen in der Gruppe wissen somit, dass sie bei meinen Folien nochmals besonders sorgfältig gegenlesen müssen.

Wo erleichtert die Uni Ihren Studi-Alltag?

Die Tatsache – das ist aber an anderen Unis auch so –, dass die Dozierenden wechseln und es ein grosses Angebot gibt. Ich hinterlasse mit einem schlechten Handout beispielsweise nicht den besten Eindruck, schleppe das aber nicht mit mir herum, weil ich vermutlich kein anderes Seminar mehr bei dieser Person belegen werde.

Nehmen Sie einen Nachteilsausgleich in Anspruch?

Bisher nicht, aber für die bevorstehende Abschlussprüfung werde ich einen beantragen. Ich werde zusätzlich Zeit brauchen, um den Text durchzugehen.

Wo kann sich die Universität Luzern bezüglich Barrierefreiheit noch verbessern? Und wo wünschten Sie sich mehr Unterstützung?

Ganz allgemein fände ich es schön, wenn nach dem ersten Jahr mehr Vorlesungen angeboten würden – Seminare stellen mich vor grosse Herausforderungen, deshalb wäre ich um mehr Abwechslung froh. Auch Hilfestellungen wie Schreibwerkstätten sind sehr wertvoll. Leider gab es diese noch nicht regelmässig, als ich mit dem Studium begonnen habe. Für Personen mit Legasthenie wäre aus meiner Sicht ein Schreibkurs wünschenswert, der Studis, einfach gesagt, näherbringt, wie sie gut und mit weniger Fehlern schreiben. Auch von Ehemaligen, die mit dieser Beeinträchtigung studiert haben, ein Coaching oder Mentoring zu bekommen, wäre super.

Was würden Sie anderen Studierenden mit einer Beeinträchtigung oder einer chronischen Krankheit mit auf den Weg geben? Was würden Sie anders machen?

Anders machen würde ich einige Dinge – zum Beispiel würde ich am Anfang des Studiums weniger Seminare belegen, da es mit dem Ressourcenmanagement aufgrund der vielen Texte schon heftig werden kann. Ich würde mich vielleicht eher bei Dozierenden «outen», mich auch früher an Mitstudierende wenden und sie bitten, Arbeiten oder Vortragsinhalte zu korrigieren. Das würde ich anderen mit auf den Weg geben. Noch schöner wäre es, wenn es Studierende gäbe, die etwa gegen Social Credits Korrekturen anbieten, denn oft geniert man sich doch ein wenig, Kolleginnen und Kollegen immer wieder um Hilfe zu bitten.

Das Interview wurde im Studienjahr 2018/2019 im Rahmen der Aktion «All inclusive!? Studieren ohne Barrieren» geführt und gibt diesen Stand wieder. Dieses und vier weitere Interviews finden sich in der bald publizierten Broschüre «All inclusive!? Studieren mit einer Beeinträchtigung». Flurina Bezzola hat ihr Bachelorstudium inzwischen erfolgreich abgeschlossen und ihr Diplom im Frühling 2020 erhalten. Nach einem Praktikum in der Ausbildungsabteilung eines Pflegezentrums hat sie in diesem Mai mit grosser Vorfreude eine neue Stelle als Jugendarbeiterin angetreten.

Informationen zum barrierefreien Studium

Loredana Bevilacqua
Forschungsmitarbeiterin Fachstelle für Chancengleichheit (bis Ende Juni)