«Wir tun viel dafür, einander nicht vertrauen zu müssen», konstatiert Martin Hartmann, Professor für Philosophie, mit Schwerpunkt Praktische Philosophie. Sein jüngstes Buch «Vertrauen. Die unsichtbare Macht» wurde als «Wissenschaftsbuch des Jahres» ausgezeichnet.

Prof. Dr. Martin Hartmann, Professor für Philosophie, mit Schwerpunkt Praktische Philosophie; Dekan der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. (Bild: Silvan Bucher)

Martin Hartmann, Ihr im März 2020 erschienenes Buch ist auf grosse Resonanz gestossen. Was sagt dieses Echo über die Thematik selbst aus?

Martin Hartmann: Die Coronakrise hat das Misstrauen sowie die politische Relevanz von Vertrauen verstärkt: Wir lenken unseren Blick noch stärker darauf, was die Politik tut oder nicht tut. Wir haben etwa im Frühling 2020 darauf vertraut, dass der Lockdown eine sinnvolle Massnahme darstellt – währenddessen nun vermehrt ein Misstrauen artikuliert wird. Solche Wellen zeichnen das Vertrauen aus, das ein wichtiger Faktor für unser Verhältnis zur Politik darstellt. Das alles habe ich bei der Veröffentlichung meines Buches nicht erahnt. Ich bin eher aus einer wissenschaftlichen Perspektive und mit einem demokratietheoretischen Interesse vor zwanzig Jahren auf dieses Thema gestossen. Das Interesse an der Vertrauensthematik war bereits vor der Coronakrise gross, es wurde durch sie zusätzlich erhöht.

Worauf führen Sie dieses grosse Interesse zurück?

Ich denke, wir haben derzeit eine Menge Krisen zu bewältigen, die mit Politik zu tun haben – man denke an die populistischen Bewegungen, an die (Nicht-)Bewältigung des Klimawandels und den Wegfall der klassischen Volksparteien in Deutschland, Frankreich und Italien. Wir sehen uns mit einer Veränderung der politischen Situation konfrontiert, und gleichzeitig wurde in einigen Ländern über mehrere Jahre ein Niedergang von Vertrauen gegenüber Parteien, Politikerinnen und Politikern sowie bestimmten staatlichen Institutionen gemessen.

Nun beschreiben Sie die vielen Krisen des Vertrauens neu und stellen fest: Es herrscht ein Unwille vor, anderen zu vertrauen. Wir wollen anderen gar nicht vertrauen, weil wir nicht verletzt werden möchten.

Ich glaube, in den wohlhabenden westlichen Staaten haben wir uns daran gewöhnt, auf einem sehr hohen Sicherheitsniveau unser Leben zu leben – nicht alle, aber viele von uns. Diese Sicherheit wollen wir nicht verlieren. Ich beschreibe dies als Sicherheitsparadox: Je sicherer wir leben, desto empfindlicher werden wir für Brüche, Gefahren und Risiken. Das ist ein Aspekt, so scheint es, der dazu führt, uns möglichst wenig verletzbar zu machen. Dies insbesondere gegenüber Unbekannten, mit denen wir aber täglich zu tun haben. Die sogenannten Helikoptereltern stehen exemplarisch dafür, immer Kontrolle ausüben zu wollen: Sie sind nicht bereit dazu, unbeobachtete und unkontrollierte Räume zuzulassen, wie ich das beispielsweise in meiner Kindheit noch erlebt habe. Aber auch im wirtschaftlichen und teilweise politischen Bereich werden Unvorhersehbarkeiten, die in echten zwischenmenschlichen Vertrauensbegegnungen immer gegeben sind, umgangen sowie Begegnungen standardisiert. Irrtümer werden beseitigt und Entscheidungen vorweggenommen, wenn wir beispielsweise im Bankenwesen mit Algorithmen operieren, statt mit konkreten Menschen zu sprechen. Wir betonen zwar die Wichtigkeit von gegenseitigem Vertrauen und haben in Wirklichkeit aber viel dafür getan, um nicht mehr vertrauen zu müssen.

Echtes Vertrauen bedeutet, meine Verletzlichkeit zu akzeptieren und meinem Gegenüber Spielräume zu geben.

Wir möchten also Gewissheit und Vorhersehbarkeit – das kann uns Vertrauen aber nicht geben …

Ja, weil echtes Vertrauen bedeutet, meine Verletzlichkeit zu akzeptieren und meinem Gegenüber Spielräume zu geben. Ich vertraue jemandem etwas an, ein Geheimnis oder meine Intimität, weil ich diesen Menschen gut kenne und vermute, dass er oder sie meine Verletzlichkeit nicht ausnutzt. Deshalb spreche ich auch von Macht, welche diese Person über mich verfügt. Vertrauen heisst, das anvertraute Gut der anderen Person zu überlassen, und wirklich zu überlassen. Es darf nicht kontrolliert werden, ob diejenigen Schritte vollzogen werden, die meinen Erwartungen entsprechen. Vielmehr gebe ich meinem Gegenüber Freiheit – das ist Vertrauen für mich. Es ist informell und lässt sich nicht regeln, wodurch eine unsichtbare Dimension, worauf ich im Untertitel meines Buches hinweise, ins Spiel kommt. Vertrauen entfaltet sich zwischen den offiziellen Regeln. Das heisst auch, dass es politisch nicht gesteuert werden kann. Vertrauen ist übrigens nicht per se gut: Es kommt immer darauf an, worum es geht und wie mit dem Vertrauen gelebt wird. Wenn Vertrauen beispielsweise nach innen gestärkt wird um den Preis eines gewachsenen Misstrauens nach aussen – Stichwort Nationalismus –, kann Vertrauen selber zur Quelle einer Krise werden.

Sie haben die vielen gegenwärtigen Krisen angesprochen. Brauchen wir vielleicht mehr Vertrauen innerhalb der Bevölkerung, um einen angemessenen Umgang mit solchen Krisen zu finden, beispielsweise der Klimakrise?

Ich glaube, Vertrauen wird innerhalb der Bevölkerung stärker, wenn wir den Eindruck haben, dass sich die Politik dem Gemeinwohl widmet und im Interesse des Gemeinwohls agiert. Und es sinkt, wenn wir merken, dass das nicht der Fall ist und ökonomische oder kurzfristige Interessen dominieren. Es gibt zwar Theorien eines ökonomischen Vertrauens, gegenüber denen ich jedoch skeptisch bin: Für Vertrauensbildung ist es gerade förderlich, wenn ich davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber keinen Vorteil aus meinem anvertrauten Gut zieht, nur, weil es sich lohnt für sie oder ihn. Wir sehen es an den Machenschaften einzelner Politikerinnen und Politiker in Deutschland, die sich durch Schutzmasken bereichert haben – das ist fatal für die Vertrauensbildung. Und im Falle des Klimawandels ist evident: Das ist ein Thema, an dem wir uns alle orientieren müssten und wo die Politik längst nicht genug tut, um im Sinne des Gemeinwohls Entscheide zu fällen. Die andere Seite der Medaille ist aber auch, so mein Eindruck, dass wir nicht wirklich unseren Lebensstandard senken möchten. Weitreichende politische Entscheidungen müssten wir als Bevölkerung mittragen.

Es geht also auch um eine klare Trennung von Gemeingütern und ökonomischen Interessen?

Ja, sobald es um Güter geht, die einen Gemeinwohl- Aspekt haben – Wasser, einen lebenswerten Planeten –, geht es um Grundrechte; hier müssen ökonomische Interessen eingeschränkt werden. Es darf nicht alles politisiert werden. Es gibt sehr dringliche Probleme, bei welchen wir versuchen müssen, Bezugspunkte ausserhalb der Politik zu schaffen, um einander mehr vertrauen zu können. Die Grenzen der Politik anzuerkennen, sehe ich als wichtige Aufgabe der Politik. Wenn das Politische nur politisch bleibt, wird das Gewicht der Realität verkannt und damit auch, dass mit weitgehenden Massnahmen darauf reagiert werden müsste. Ich glaube zwar nicht, dass wir jemals «die Realität» erkennen, sie wird immer gefiltert sein durch unsere Interessen – aber wir könnten zumindest versuchen, die Wahrnehmung einer gemeinsamen Welt anzustreben.

Sie setzen sich, wie erwähnt, seit rund zwei Jahrzehnten mit dem Thema «Vertrauen» auseinander; so ist bspw. 2011 Ihr Buch «Die Praxis des Vertrauens» erschienen. Was ist eine Kernerkenntnis aus dieser langjährigen Arbeit?

Vertrauen ist an Praktiken gebunden. Es ist nicht entweder da oder nicht da: Vertrauen ist vielmehr dynamisch zu sehen, es entfaltet sich, wächst oder verdorrt. Und wenn uns daran liegt, dann dürfen wir nicht so schnell aufgeben. Wenn wir wirklich vertrauen wollen – wie gesagt, gegenwärtig tun wir viel dagegen –, dann müssen wir vielleicht kontrollorientierte Massnahmen wie Überwachungssysteme zurückfahren, um dem Vertrauen wieder mehr Raum zu geben; damit die Menschen einander wieder vertrauen können, und nicht über die Technik.

Professor Hartmanns Buch «Vertrauen. Die unsichtbare Macht» (Frankfurt a. Main 2020) wurde im Januar 2021 zum «Wissenschaftsbuch des Jahres 2021» (Sparte «Medizin & Biologie») gekürt. Vergeber des Preises ist das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (frühere Newsmeldung).

Aline Stadler ist Masterstudentin der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie. Das Interview ist im Jahresbericht 2020 der Universität Luzern erschienen.

Früheres Magazin-Interview mit Professor Martin Hartmann zur Thematik