Fake News, alternative Fakten, Lügenpresse – es steht nicht gut um unser Vertrauen in Politik, Medien, Wissenschaft und Gesellschaft. Aber wieso eigentlich? Und stimmt das überhaupt?

Blickwinkel einer Person die einen Berg hinaufklettert
(Bild: pixabay.com/Pexels)

«Vertrauen», sagt Martin Hartmann, «ist wie die Luft zum Atmen. Solange alles in Ordnung ist, bemerken wir sie gar nicht.» Heisst im Umkehrschluss: Denken wir über Vertrauen nach, dürfte damit wohl etwas im Argen liegen. Tatsächlich wird aktuell viel über Vertrauen gesprochen, allerdings meist, um deren Mangel zu beklagen. Martin Hartmann, Professor für Philosophie, geht in seinem neuesten Buch der Frage nach, was dran ist an der vielbeschworenen Vertrauenskrise.

Martin Hartmann, in Zeiten von Corona ist Händeschütteln tabu. Werden wir damit gleich zum Auftakt eines Kontakts einer gemeinsamen Vertrauensbasis beraubt?

Martin Hartmann: Viele Leute sind tatsächlich verunsichert, weil sie sich nicht mehr die Hände reichen sollen. Der Handschlag lässt sich insofern als ein Vertrauensakt deuten, als er die Eröffnung eines Vertrauensverhältnisses signalisiert. Dieses Signal kann aktuell nicht mehr in der gewohnten Form ausgesendet werden. Gleichzeitig treten kreative Alternativen zu Tage. Man begrüsst sich etwa mit den Ellbogen. Auf der einen Seite ist also die Irritation über den Wegfall einer gewohnten Begrüssungsform, auf der anderen Seite aber auch der Wunsch, weiterhin in irgendeiner Weise verstehen zu geben, dass man einander auf einer ganz elementaren zivilen Eben vertrauen möchte.

Wir möchten vertrauen, gleichzeitig ist vielerorts von Vertrauensverlust die Rede. Stecken wir in einer Vertrauenskrise?

Ich glaube nicht an die eine allumfassende Vertrauenskrise, sehe aber durchaus, dass es vielfältige Vertrauenskrisen gibt. Diese müssen unterschiedlich beschrieben werden. Das Internet zum Beispiel kannten wir vor einigen Jahren noch gar nicht, konnten also diesbezüglich überhaupt keine Vertrauensproblematik haben. Wenn wir uns heute fragen, wem wir im Rahmen der elektronischen Kommunikation vertrauen können, dann handelt es sich dabei nicht um eine Vertrauenskrise in dem Sinne, dass dieses Vertrauen mal da war und nun verschwunden ist. Es ist einfach eine neue Möglichkeit zu kommunizieren, die ihre eigenen Probleme erzeugt, wobei auch Vertrauensprobleme mitschwingen können.

Trotzdem weisen Umfragen weltweit auf ein sinkendes allgemeines Vertrauen hin.

Martin Hartmann, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie. Von ihm ist kürzlich das Buch «Vertrauen. Die unsichtbare Macht» (Frankfurt a. Main) erschienen.
Martin Hartmann, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie. Von ihm ist kürzlich das Buch «Vertrauen. Die unsichtbare Macht» (Frankfurt a. Main) erschienen.

Vertrauen ist mehr als eine Meinung oder Haltung, die man abfragen kann. Vertrauen ist gelebte Praxis. Mit Umfragen fängt man Stimmungen ein, und Stimmungen sind wichtig. Aber die gelebte Wirklichkeit von Vertrauen ist vielfältiger als das, was wir mittels Umfragen erfassen können. Deshalb verzerren Umfragen die Realität, teils gar auf eine Art, die negative Feedback-Loops erzeugt. Etwa wenn die Politik auf das angeblich fehlende Vertrauen reagiert, indem sie Erwartungshaltungen erzeugt, die gar nicht erfüllbar sind.

Können Sie das erläutern?

Wir richten unseren Fokus stärker auf die Person anstatt auf Parteien oder politische Programme. Von dieser Einzelperson erwarten wir einfache Lösungen für komplexe Sachverhalte. Gerade weil es sich dabei um komplexe Sachverhalte handelt, für die es eben keine einfachen Lösungen gibt, werden diese Erwartungen notwendigerweise enttäuscht. Das politische Personal wiederum reagiert darauf, indem es Dinge vereinfacht, die nicht vereinfacht werden können. Damit soll Vertrauenswürdigkeit erzeugt werden. Faktisch werden aber Illusionen erschaffen und Enttäuschungen evoziert.

Schafft Transparenz Vertrauenswürdigkeit?

Transparenz selbst kann Vertrauen nicht schaffen, sondern sie setzt es voraus. Es sind immer Menschen, die mir etwas transparent machen. Denen muss ich vertrauen, bevor Transparenz wirksam sein kann. Wir müssen also überlegen, ob wir den Quellen vertrauen können. Hier setzen denn auch die Gegner der Transparenz an, indem sie diese Quellen mit ihren Fake-News-Schreien als nicht vertrauenswürdig diskreditieren.

Populistinnen und Populisten erfahren weltweit Zulauf, obwohl sie nachweislich offen lügen. Trotzdem verlieren sie das Vertrauen ihrer Anhänger nicht. Wie ist das möglich?

Offene Lügen kommunizieren etwas, was über diese Lügen hinausgeht, etwa Dreistigkeit, politische Macht oder Volksnähe, schliesslich lügen wir im Alltag ja alle. Vor allem aber steckt dahinter die Absicht, Wahrheit zu diffamieren.

Wie meinen Sie das?

Der Populist möchte von Objektivität ablenken. Wenn die Leute nicht mehr glauben, dass es eine objektive Wahrheit gibt, dann hat niemand recht. Am Ende bleibt dann nur der Wille zur Macht, wie Nietzsche sagen würde, oder der nackte Kampf um diese Macht. Juristen sprechen von «Dezisionismus»: Als Basis der Entscheidung ist nicht ihre Legitimität oder Wahrheit relevant, sondern einzig die blosse Entscheidung. Das ist genau das, was die Populisten wollen. Sie diskreditieren diejenigen, die sich auf eine objektiv feststellbare Wahrheit – namentlich die Wissenschaft – berufen, und entziehen ihnen damit die Basis für politisches Handeln.

Wenn wir jemandem vertrauen, dann verzichten wir bewusst auf Kontrolle. Das macht uns verletzbar.
Martin Hartmann

Ist das Bedürfnis nach Kontrolle heute stärker ausgeprägt?

Dafür gibt es durchaus Indizien. Helikoptereltern zum Beispiel. Oder SUV-Fahrer, was ebenfalls eine Art Kontrollgeste ist: Ich will in einem sicheren Auto am Verkehr teilnehmen, weil ich den anderen nicht vertraue. In den USA werden Umkleidekabinen anders gestaltet, weil Jugendliche offenbar zunehmend Probleme mit Nacktheit haben. Bei all diesen Beispielen geht es darum, die Kontrolle nicht zu verlieren und sich vor bestimmten Verletzlichkeiten zu schützen.

Wir vertrauen nicht, weil es uns schwerfällt, die Kontrolle abzugeben?

Der Wunsch nach Kontrolle signalisiert fehlendes Vertrauen. Wenn wir jemandem vertrauen, dann verzichten wir bewusst auf Kontrolle. Das macht uns verletzbar. Dies beschreibt die Ambivalenz des Vertrauens: Einerseits sehnen wir uns nach engen Beziehungen, andererseits haben wir Angst davor, weil Vertrauen mit Verletzlichkeit einhergeht.

Dann bezieht sich die Vertrauenskrise auf das Vertrauen selbst?

Wenn wir das Gefühl haben, vertrauen zu müssen, dann kann das an sich eine Vertrauenskrise auslösen, weil ich vielleicht gar nicht vertrauen möchte, sondern lieber die Kontrolle behalte. Wir fürchten uns vor dem Vertrauen, vertrauen dem Vertrauen nicht, weil wir durch das Vertrauen, das wir anderen schenken, nicht verletzt werden wollen. Das ist nicht bloss eine Vertrauenskrise, sondern eine Krise des Vertrauens. Es geht dabei nicht darum, dass andere nicht vertrauenswürdig sind. Es geht darum, dass wir nicht bereit sind, anderen unser Vertrauen zu schenken, weil ich mich damit immer auch ein Stück weit exponiere.

Eine repräsentative Befragung hat ergeben, dass Schweizerinnen und Schweizern bei der Nutzung smarter Produkte Vertrauen besonders wichtig ist (siehe Box). Vertrauen bedeutet hier aber auch Kontrolle. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Kategorie des Vertrauens völlig überladen wird. Hier wird Vertrauen mit Kontrolle, Verlässlichkeit oder Programmierbarkeit verwechselt. Mir geht es auch darum, den Begriff des Vertrauens zu entlasten. Ich muss weder meinem Navigationssystem noch meiner Bank oder dem smarten Kühlschrank vertrauen. Es reicht aus, wenn ich mich auf die Funktionstüchtigkeit verlassen kann. Stattdessen sollten wir uns darüber klarwerden, wo Vertrauen wirklich wichtig ist, und uns überlegen, wie wir die Bedingungen schaffen, um anderen vertrauen zu können. Das ist schwer genug. Denn aktuell geht die Tendenz in eine andere Richtung.

Weshalb ist Vertrauen überhaupt erstrebenswert?

Vertrauen ist Anerkennung. Sie macht Mut, gewährt Freiräume und signalisiert: Du kannst das. Ich gebe dem anderen Freiheit und die Möglichkeit, in dieser Freiheit zu wachsen – und andersrum.

unilu.ch/martin-hartmann

Informationen zum Buch «Vertrauen. Die unsichtbare Macht»

Vertrauen in smarte Produkte

Mit Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz verändern sich Produkte grundlegend, sie werden immer «smarter». Als Beispiel können intelligente, mit sprachgesteuerten Assistenten verbundene Lautsprecher genannt werden. Bei smarten Produkten ist den Schweizerinnen und Schweizern Vertrauen sehr wichtig. Unter anderem dies zeigt der im Februar publizierte «Smart Products Report 2020» der Universitäten Luzern (Reto Hofstetter, ordentlicher Professor für digitales Marketing, und Melanie Clegg, wissenschaftliche Assistentin) und St. Gallen (Professor Emanuel de Bellis und Jenny L. Zimmermann). Vertrauen bedeutet hierbei aber auch Kontrolle, so die Ergebnisse aus der repräsentativen Online-Umfrage: Die Möglichkeit, jederzeit beim selbstständig agierenden Produkt intervenieren zu können, ist für einen Grossteil der 1004 Befragten sehr wichtig. Vertrauenssteigernd wirkt zudem, wenn smarte Produkte zertifiziert sind und gesammelte Daten nur für den vorgegebenen Zweck verwendet werden.

Boomende Sprachsteuerung
Gemäss dem «Voice Barometer Schweiz», einer weiteren Studie unter der Leitung von Professor Reto Hofstetter, gewinnt die Sprachfunktion, also Alexa, Siri, Google Search & Co., immer mehr an Bedeutung. Laut der neuesten Erhebung – Ende April erschienen und in Zusammenarbeit mit Farner Consulting und Swisscom realisiert – nutzt in der Schweiz bereits jede/r Zweite Voice User Interfaces. Die 2018 erstmals durchgeführte Studie wurde kürzlich im Rahmen der SABRE Awards des Branchenportals «PRovoke» (ehemals «Holmes Report») für eine Auszeichnung nominiert. (red.)