"Hinter Mauern": Fürsorge und Gewalt

Verding- und Heimkinder haben zwischen 1930 und 1970 in kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern grosses Unrecht erfahren. Dies dokumentiert die Studie "Hinter Mauern".

Regina P. Steiner brachte ihre Kindheit im Kinderheim Rathausen in Ebikon künstlerisch zum Ausdruck.

"Uns wurde ja nicht geglaubt." Das ist die wiederkehrende Aussage von Menschen, die in den 1930er- bis 1970er-Jahren in Kinderheimen im Kanton Luzern untergebracht waren. Über ihre traumatischen Erfahrungen haben viele von ihnen bis heute geschwiegen. Nun hat ein Forschungsprojekt im Auftrag der Römisch-katholischen Landeskirche Luzern begonnen, die Geschichte der kirchlich geführten Kinderheime im Kanton Luzern aufzuarbeiten und die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder zur Sprache zu bringen. 2008 hat die Landeskirche die Opfer und Geschädigten um Verzeihung gebeten und in dem ehemaligen Kinderheim Rathausen eine Gedenkstätte errichtet.

Zudem hat sie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte der kirchlichen Heimerziehung in Auftrag gegeben. Unter der Leitung von Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät Luzern, wurde 2010–2012 das Forschungsprojekt in sieben miteinander verbundenen Teilstudien durchgeführt. Kolloquien und Workshops vernetzten das Projekt mit anderen Schweizer Forschungsprojekten zu Heim- und Verdingkindern und mit internationalen Projekten.

Ausgegrenzte und ausgelieferte Heimkinder

Die Ergebnisse machen ein erschreckendes Ausmass von Machtmissbrauch, Gewalt und sexuellen Übergriffen sichtbar. Die Ordnung in den Heimen war streng reglementiert. Die zum Teil drastischen Strafen reichten von Androhungen, etwa in ein anderes Heim versetzt zu werden, über Schläge und Essensentzug bis hin zu traumatisierenden Strafen wie eingesperrt oder unter Wasser getaucht zu werden. Die Kinder waren schlecht gekleidet und genährt. Aufgrund ihrer Kleidung und ihrer Holzschuhe, die man von weitem klappern hörte, waren sie in der Öffentlichkeit sofort als Heimkinder erkennbar; sie schämten sich und wurden von der Gesellschaft stigmatisiert. Sie hatten keine Lobby und waren ausgeliefert. Die kantonalen Behörden arbeiteten eng mit den kirchlichen Trägern der Heime zusammen, die Eltern waren machtlos. Besonders die Kinder von mittellosen und gesellschaftlich diskreditierten alleinerziehenden Müttern hatten im Heim einen schweren Stand und wurden besonders häufig und oft grundlos "abgeschlagen".

Hinter den Mauern litten die Heimkinder unter Hunger, Gewalt und Missbrauch. Auf dem Foto: das ehemalige Kinderheim in Rathausen in Ebikon. (Bild: Markus Ries)

So isoliert die Welt in den Heimen war, so sehr spiegelt sie doch die gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen und Mentalitäten ihrer Zeit. Die Heimunterbringung der Kinder, häufig gegen den Willen der Eltern, erfolgte oft aus gesellschaftspolitischen Gründen. Die Heime waren notorisch unterfinanziert und personell unterbesetzt. Die Erziehenden, in den kirchlich geführten Heimen waren dies in der Mehrzahl Ordensschwestern, waren schlecht ausgebildet; sie standen unter einem enormen Druck, mit sehr geringen Mitteln das Leben in den Heimen zu bestreiten. Sie waren rund um die Uhr im Einsatz, teilweise nähten sie die Kleidung für die Kinder selbst, und zu essen gab es, was selbst im Klostergarten angebaut wurde. Einige Kinder wurden von ihren Familien zusätzlich durch Lebensmittel und Kleidung versorgt; Kinder, die dieses Umfeld nicht hatten, haben zumindest in den frühen Jahren auch gehungert. 

 In der Forschung kommt auch ein erschreckendes Ausmass an sexuellem Missbrauch zum Vorschein, sowohl in den Heimen als auch in den Herkunftsfamilien, Pflegefamilien und in den Arbeitsverhältnissen der Jugendlichen. Das stellt Fragen insbesondere an die Kirche und die Theologie, aber auch an die Gesellschaft der damaligen Zeit. Das Forschungsprojekt stellt sich deshalb insbesondere auch der theologischen Aufarbeitung des Widerspruchs von Anspruch und Wirklichkeit.

Strukturen von Macht und Gewalt wirken weiter

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Heime hat eine hohe aktuelle Relevanz. Zum einen bestimmen die körperlichen und seelischen Folgen bis heute das Leben der ehemaligen Heimkinder. Zudem stellt sich die Frage, wie die Strukturen von Macht und Gewalt heute unter veränderten Erscheinungsformen weiter wirken. Die Forschung gibt dazu einige Anhaltspunkte: Unterfinanzierung, Personalmangel, schlechte Ausbildung von Personal, mangelnde Kontrolle, Allianzen der Aufsichtsinstitutionen von sozialen Einrichtungen und Schweigekartelle, fehlende Lobby für sozial Schwache (heute könnten dies z.B. die altersdementen Hochbetagten ohne Angehörige in den Seniorenheimen, Flüchtlinge oder Sans Papiers sein) sowie das Wegsehen und Weghören der breiten Gesellschaft – diese Strukturen stellen auch heute den Rahmen für versteckte und verschwiegene Gewalt dar.

Prof. Dr. Markus Ries (links) und lic. theol. Valentin Beck, MA.

Das Forschungsprojekt beleuchtet die verschiedenen Aspekte der kirchlichen Heimerziehung in sieben Teilprojekten. Das methodische Vorgehen basiert auf Archivrecherchen, Methoden der Oral History und der empirischen Sozialforschung sowie auf Diskursanalysen. Markus Ries und Valentin Beck, Assistent an der Professur Kirchengeschichte, untersuchen die kirchlich-institutionellen Zusammenhänge der Heimerziehung und die konfessionell-religiösen Legitimationsweisen. Loretta Seglias, Koordinatorin verschiedener Forschungsprojekte zur Fremdplatzierung in der Schweiz und Doktorandin am Departement Geschichte der Universität Basel, ordnet die Heimerziehung in den Zusammenhang der gesellschaftlichen, mentalitätsgeschichtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen des 20. Jahrhunderts ein. Markus Furrer, Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der PHZ Luzern, und seine Mitarbeiterinnen Martina Akermann und Sabine Jenzer zeigen das Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen und Behörden bei der Heimerziehung auf und vernetzen das Projekt mit der vom Regierungsrat des Kantons Luzern in Auftrag gegebenen "Untersuchung Kinderheime im Kanton Luzern (1930er-bis 1970er-Jahre)". Die schulpädagogischen Aspekte erarbeitet Werner Hürlimann, Dozent für Erziehungswissenschaften an der PHZ Luzern. In seiner mit Sylvia Bürkler und Daniel Goldsmith verfassten Teilstudie geht er auf die Erziehungs- und Strafpraktiken in der Schweiz bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Stephanie Klein, Professorin für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Luzern, ist mit zwei Teilprojekten beteiligt. Sie rekonstruiert die Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder und die Strukturen des Heimalltags aus deren eigener Perspektive. In einem weiteren Teilprojekt analysiert sie die Strukturen von Macht, Gewalt und sexuellem Missbrauch in den Heimen und untersucht, wie diese heute unter veränderten Erscheinungsformen noch wirksam sind. Johannes Frühbauer, Professurvertreter für theologische Ethik an der Theologischen Fakultät, geht auf Schuld und Verantwortung aus ethischer Perspektive ein.

Aufarbeitung bedeutet späte Genugtuung für die Betroffenen

Die Erfahrung, dass die ehemaligen Heimkinder nun nach ihren Erinnerungen gefragt werden, dass ihnen geglaubt wird und ihre Aussagen wichtig für die humane Entwicklung der Gesellschaft sind, bedeutet vielen von ihnen eine späte Genugtuung. Kurt E. Steiner, ein ehemaliger Heimbewohner, hat der Projektgruppe ein Bild geschenkt, mit dem seine Frau Regina die Erfahrung in der Erziehungsanstalt Rathausen künstlerisch zum Ausdruck bringt (siehe oben). Die Forschungsergebnisse werden im März 2013 im Theologischen Verlag Zürich veröffentlicht und sind dann auch elektronisch im Internet zugänglich.

 

Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 42, Februar 2013.
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Siehe zudem auch den Beitrag zum Thema im Jahresbericht 2011 der Universität Luzern, Juni 2012.
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