Abholzung – und seit Wochen verheerende Brände: Die Zerstörung des Regenwaldes im Amazonas-Gebiet schreitet voran. Mit der Stärkung indigener Landrechte läge eine nachhaltige Lösung bereit, doch die Durchsetzung gestaltet sich schwierig.

Luftaufnahme des Regenwalds in der Nähe von Manaus in Brasilien. (Bild: Neil Palmer/Wikimedia Commons)

Indigene Völker bewohnten das heutige Lateinamerika schon lange vor der conquista, der Eroberung durch die spanische und portugiesische Krone. Viele von ihnen leben noch heute auf ihren angestammten Gebieten im Amazonas. Doch dieser wird von einer irreversiblen Zerstörung bedroht. Die Abholzung schreitet jährlich fort – mit ungewissen globalen Folgen. Die Gründe dafür sind zahlreich: Forstwirtschaft, Gewinnung von Ackerland, Viehwirtschaft, Abbau fossiler und mineralischer Rohstoffe. Zusätzlich wird der Amazonas aktuell durch verheerende Waldbrände gefährdet, welche sich vor wenigen Wochen im brasilianischen Amazonas ausgebreitet haben. 

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Es deutet einiges darauf hin, dass die Feuer absichtlich von Agrikulturproduzenten gelegt wurden. Die brasilianische Staatsanwältin Raquel Dodge sprach in diesem Zusammenhang von einer «orchestrierten Aktion». NGOs bezichtigten den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, seine Politik habe private Landbesitzer angestiftet, zusätzliches Bau- und Ackerland durch Brandrodungen zu schaffen. Bolsonaro selbst wies die Kritik zurück und schob den NGOs die Schuld zu. Diese hätten die Brände selbst gelegt, um mehr Geld und politische Beachtung zu erhalten. So oder so: Können die Feuer nicht bald eingedämmt werden, sieht sich die Welt mit gravierenden Konsequenzen für das gesamte Ökosystem konfrontiert. Lösungsansätze hingegen sind kaum in Sicht; Bolsonaro hat auf das internationale Hilfsangebot mit Hohn reagiert und von einer Beschneidung der brasilianischen Souveränität gesprochen. 

Aus einer rechtlichen Perspektive stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wem der Amazonas gehört respektive wem ein Verfügungsrecht zusteht. Das Recht weist diese Kompetenzen grundsätzlich zwei traditionellen Rechtskonzepten zu: der Staatssouveränität und dem Privateigentum. Die Souveränität erlaubt es dem Staat, aufgrund öffentlicher Interessen, oft wirtschaftlicher Art, Land zu enteignen, Wald zu roden, Ackerflächen zu schaffen oder Erdöl zu fördern. Das Privateigentum hingegen erlaubt es dem Individuum, grundsätzlich frei über ein Grundstück zu verfügen, also etwa Monokulturen, Viehwirtschaft oder Tourismusprojekte zu betreiben.

Durch die Legitimierung menschlicher Domination über die Natur hat das Recht Tür und Tor für die Zerstörung des Amazonas geöffnet.

Doch sind Souveränität und Privateigentum mit Blick auf eine Region von globaler Bedeutung adäquate Rechtsinstitute? Beide Konzepte fussen auf einer anthropozentrischen Sichtweise, in der dem Menschen das Recht zukommt, über die Natur zu verfügen und diese zu dominieren. Durch die Legitimierung menschlicher Domination über die Natur hat das Recht Tür und Tor für die Zerstörung des Amazonas geöffnet. 

Ganzheitliches Verständnis von Natur

Solche Konzepte stehen diametral zu den sogenannten Kosmovisionen indigener Völker. Weder Souveränität noch Privateigentum hat in der Amazonas-Region vor der conquista existiert. Die Beziehung zwischen indigenen Völkern und ihren angestammten Gebieten basiert auf Harmonie mit der Natur, Gegenseitigkeit, Relationalität, Ergänzung und Solidarität. Für die Kichwa-Völker des ecuadorianischen Amazonas etwa findet diese Beziehung Ausdruck im Prinzip des sumak kawsay (das «gute Leben» oder das «Leben in Fülle»). Diesem Prinzip liegt ein ganzheitliches Verständnis der Natur zugrunde, in dem nicht nur den Menschen die Eigenschaft als Wesen zugeschrieben wird, sondern allem, was sie umschliesst: Tiere, Pflanzen, Wälder, die Winde, Wasserfälle sowie Sonne, Mond und die Konstellationen. Indigene selbst sehen sich daher nicht als «Souverän» oder «Eigentümer» des Amazonas, sondern als Verwalter oder Wächter der Mutter Erde, von der sie selbst ein Teil sind. Insofern schliessen indigene Kosmovisionen die Domination der Natur durch den Menschen aus. 

«Der Schrei des lebendigen Dschungels»: Protestplakat und -inschrift in der Kichwa-Ortschaft Sarayaku in Ecuador. International bekannt wurde die Gemeinde wegen des Widerstand gegen die von der Regierung beschlossene Erschliessung des ihr gehörenden Regenwalds für die Erdölförderung. (Bild: Jonas Perrin)

Relevanter Beitrag zum Umweltschutz

Seit den 2000er-Jahren misst der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) dem Schutz indigener Landrechte jedoch einen höheren Wert bei – auch wenn die innerstaatliche Anwendung an massiven Defiziten leidet. Der IAGMR hat nicht nur kollektive Eigentumsrechte indigener Völker an ihren angestammten Gebieten und Vetorechte gegenüber staatlichen Massnahmen, sondern auch die Existenz eines internen Selbstbestimmungsrechts indigener Völker anerkannt. Obwohl die Zuerkennung dieser Rechte nicht mit den traditionellen Konzepten brechen, durchdringen diese zumindest punktuell die innere Souveränität der Staaten und die Eigentumsrechte Privater – zugunsten der vorbestandenen Rechte indigener Völker. Zudem hat der IAGMR ihnen eine wichtige Rolle für den Umweltschutz zugeschrieben: Beim Fall der Kaliña- und Lokono-Indigenen gegen die Republik Suriname hielt der Gerichtshof fest, dass indigene Völker aufgrund ihrer wechselwirkenden Beziehung mit der Natur einen relevanten Beitrag zur Erhaltung der Umwelt leisten. Insofern betrachtet das moderne Völkerrecht den Schutz indigener Landrechte und Umweltschutz als nicht voneinander loslösbar. 

Indigene Völker sind die bestmöglichen Verwalter und Wächter einer Region, deren Erhaltung von globaler Bedeutung ist.

Demnach kommt der Achtung indigener Landrechte ein enormes Potenzial zum Schutz des Amazonas zu. Aufgrund der Beziehung indigener Völker zu ihren angestammten Gebieten, die auf Harmonie statt Ausbeutung und auf Reziprozität statt Domination der Natur fussen, sind indigene Völker die bestmöglichen Verwalter und Wächter einer Region, deren Erhaltung von globaler Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund der akuten Bedrohung des Amazonas ist es evident, dass die zwangsimportierten kontinentaleuropäischen Rechtsinstitute der Souveränität und des Privateigentums den Regenwald nicht zu schützen vermögen – die Gewährleistung und Förderung indigener Landrechte sollte deshalb an ihre Stelle treten.

Reformation durchaus möglich

Es ist an der Zeit, die aktuelle Völkerrechtsordnung zu überdenken. Dass Reformationen des Völkerrechts möglich sind, zeigt die Erfolgsgeschichte der Menschenrechte: Vor 1945 wäre die Zuerkennung individueller Ansprüche gegenüber den Staaten kaum denkbar gewesen. Nun gilt es – gerade in der Wissenschaft – neue Konzepte zu erarbeiten. Indigene Prinzipien mit Blick auf die Verwaltung von Territorien bieten dabei interessante Ansätze, gerade im Hinblick auf die längst überfällige Dekolonisierung des Rechts.

Foto Jonas Perrin

Jonas Perrin

Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Sebastian Heselhaus, Ordinarius für Europarecht, Völkerrecht, Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung. Perrin doktoriert zum Thema «Indigene Landrechte im regionalen Völkerrecht Lateinamerikas». Gefördert durch ein Mobilitätsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds, absolvierte er in diesem Rahmen 2016/2017 einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Ecuador. jonas.perrinremove-this.@remove-this.unilu.ch

Konferenz zum Thema "Natur, Kultur und Wahrnehmung"

Jonas Perrin hält am 1. Oktober den Vortrag "Indigenous Land Rights in International and Ecuadorian Law: A Right to Veto?". Dies im Rahmen der für alle Interessierten offenen und kostenlos besuchbaren Konferenz "Nature, Culture and Perception. From the Amazon to the Alps", die vom 30. September bis am 2. Oktober dauert. Der unter dem Patronat des Club of Rome stehende Anlass beschäftigt sich mit der Zerstörung der Biosphäre sowie der Entwicklung nachhaltiger Lösungen und spannt einen Bogen vom Amazonas bis zu den Alpen. Die Konferenz mit ihrem Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft wird von der Stiftung Lucerna durchgeführt und erfolgt in Zusammenarbeit zwischen der Universität Luzern, Video Window und dem Haus für Kunst Uri. Die Tagung ist Teil eines Projekts, zu dem eine internationale Gruppenausstellung im Haus für Kunst Uri samt Begleitpublikation sowie ein Blockseminar zählen. Konzipiert wurde "Nature, Culture and Perception" von Boris Previšić, SNF-Förderprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Luzern, der Präsident der Stiftung ist, und von Dr. Bruno Z'Graggen, Kurator von Video Window. Die Konferenz – an der beim Vortragsteil mit den Professoren Malte Gruber, Jon Mathieu, Klaus Mathis und Daniel Speich auch weitere Universitätsangehörige beteiligt sind – wird von der universitären Forschungskommission und vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert.

Mehr Informationen und Anmeldung (reguläre Frist: 18. September)