Was Identität und Identitäten anbelangt, erleben sich heutige Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften in einer Gestaltungsverantwortung. Sie sehnen sich nach dem Einem und begegnen dem Vielen und sich Wandelndem, das gerade ihre Identitäten ausmacht.

Foto einer Frau inmitten einer unscharf dargestellten Menschenmenge
(Bild: istock.com/xavierarnau)

Der Begriff «Identität» kann auf einer kollektiven Ebene – Identität(en) von Gruppen, Gemeinschaften usw. – sowie auf einer individuellen Ebene in Form von persönlichen Identität(en) angesiedelt werden. Auf der individuellen Ebene erweisen sich Identität(en) in einer ethischen Dimension unter anderem als Streben nach Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz.

Komplexes Zusammenspiel

Auf der kollektiven Ebene erhöht sich die Komplexität noch zusätzlich. Gerade dort, wo individuelle Identitäten in ethischer Hinsicht auf vermeintliche kollektive Identitäten prallen, zeigt sich in besonderem Masse die Grenze der Rede von kollektiven Identitäten. Neben der Gefahr der Vereinnahmung von Menschen durch kollektive Identitäten erzeugen Letztere Risiken der Selbstaufgabe von Menschen, der Nivellierung individueller Identitäten, der Exklusion von Menschen und der Negierung anderer kollektiver Identitäten.

Kollektive Identitäten können aber auch mit anderen kollektiven Identität(en) und mit Identität(en) auf der individuellen Ebene zusammengedacht werden. Zudem kann gerade die Konstruktion oder die Bezugnahme auf eine kollektive Identität gegen Unrecht, Ungerechtigkeit und Diskriminierung hilfreich sein. Der Politologe Francis Fukuyama erkennt im Zuge einer historischen Betrachtung: «Jede marginalisierte Gruppe stand vor der Wahl, einen breiteren oder einen engeren Identitätsbegriff für sich zu beanspruchen. Sie konnte fordern, dass ihre Mitglieder genauso behandelt wurden wie die Angehörigen dominanter gesellschaftlicher Gruppen. Oder sie konnte auf einer besonderen Identität bestehen, die sich von jener der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, und dafür Respekt zu verlangen.» Die von der Philosophin Simone de Beauvoir erschlossene «gelebte Erfahrung» bekommt in der zweiten Option Gewicht.

Religiöse Komponente

Antworten auf die Frage nach dem eigenen Verhältnis zur Transzendenz – also zum nicht unmittelbar Erfahrbaren – formen die religiösen Identität(en) von Menschen. Die in Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften überlieferten Glaubensüberzeugungen und Traditionen prägen zum einen religiöse Identität(en) auf der individuellen Ebene. Zum anderen tragen sie aber auch zur Schaffung von religiösen Identität(en) auf der kollektiven Ebene bei. Dabei verweist die menschliche Suche nach religiösen Identität(en) über die Menschen selbst hinaus. 

Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen gibt zu bedenken, «dass Identitäten entschieden plural sind und dass die Wichtigkeit einer Identität nicht die Wichtigkeit anderer zunichtemachen muss. [...] [man] muss [...] explizit oder implizit entscheiden, welche relative Bedeutung man in einem bestimmten Kontext den unterschiedlichen Loyalitäten und Prioritäten beimisst, die möglicherweise miteinander um Vorrang konkurrieren». Selbst kontrastierende Identitäten können in einer Identität kombiniert werden. Dies wiederum umfasst, dass Identität(en) weder vollumfänglich determiniert noch dass sie vollkommen frei wählbar sind. Menschen müssen sich entscheiden, welche Bedeutung sie Elementen zumessen, die ihre Identität(en) ausmachen. «Das Leben ist nicht bloss Schicksal.»

Moralische Dimension

Diese Verantwortung für das eigene Leben und damit verbunden für die Beimessung von Bedeutung von Identität(en) sowie die dabei teilweise offenstehende Auswahl kennt dahingehend einen normativen Anteil, als sich dabei die Frage ergibt, welche Identität(en) aus ethischer Sicht sein sollen und welche nicht. Moralische Identität(en) umschreibt bzw. umschreiben, dass ein Mensch versucht, eine Art von Mensch und nicht eine andere Sorte von Mensch zu sein, indem sie/er versucht, auf der Basis von persönlichen Moralvorstellungen einen bestimmten Charakter zu entwickeln und zu entfalten.

Von Identität(en) lässt sich aussagen, dass gerade das Trennende, das Abgrenzende und das Kontrastierende Identität(en) im Kern ausmachen. Daher sollen Identität(en) in umfassenden Identität(en) eingebettet werden – denjenigen als Menschen, als Trägerinnen und Träger von Menschenwürde und Menschenrechten. Es geht darum, so der Soziologe und Politologe Alfred Grosser, «der Identität als Mensch einen besseren Platz zu verschaffen, als es die Selbstidentifikation durch die Kultur vermag».

Foto Peter Kirschlaeger

Peter G. Kirchschläger

Ordentlicher Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik (ISE)
unilu.ch/peter-kirchschlaeger

Das ISE feiert im kommenden Jahr sein 40-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass findet im Herbstsemester 2020/21 unter anderem eine öffentliche Ringvorlesung zum Thema «Identität(en)» statt. Diese startet am 15. September mit einer Einführung von Professor Kirchschläger. Newsmeldung