Tanja Ivanovic, Anwältin und Notarin, Doktorandin an der Universität Luzern, antwortet.

(Bild: Silvan Bucher)

Gemäss dem Bundesamt für Statistik waren in den Jahren 2018 bis 2020 jährlich zwischen 12'000 und 13'000 minderjährige Kinder von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. In jedem dieser Scheidungsfälle müssen nach der Trennung der Eltern diverse Fragen geklärt werden: Bei welchem Elternteil soll das Kind nach Auflösung des gemeinsamen Haushalts hauptsächlich wohnen? Wie häufig und wann soll der andere Elternteil das Kind betreuen? 

Den meisten Eltern gelingt es, diese Fragen einvernehmlich zu regeln. In ungefähr zehn Prozent der Fälle wird das Kind allerdings als Spielball im Scheidungskampf missbraucht. Die Eltern streiten vor Gericht jahrelang über die Antworten auf die oben beispielhaft aufgezählten Fragen. Jeder Elternteil argumentiert dabei mit dem Wohl des Kindes und wirft dem anderen gleichzeitig eine Kindeswohlgefährdung vor: Der andere Elternteil schikaniere, bedrohe und/oder missbrauche das Kind körperlich, psychisch oder gar sexuell. Nicht selten wird das Kind in der Folge mehrfach begutachtet, von verschiedenen Richterinnen befragt, von einem Beistand begleitet oder von einem Kinderanwalt vertreten. Im Hinblick auf die Kindesanhörungen versucht selbstredend jeder Elternteil, das Kind für sich zu instrumentalisieren und ihm deutlich zu machen, wie «böse» der andere Elternteil sei. 

Dabei lassen beide Eltern ausser Acht, dass bereits die Trennung und Scheidung als solche für das Kind eine schmerzhafte Erfahrung darstellen. Kann es diese nicht verarbeiten, weil es zum Mittelpunkt des elterlichen Konflikts oder von einem Elternteil entfremdet wird, kann es zu einer erheblichen Gefährdung des Wohls des Kindes kommen. Mit anderen Worten resultiert die Kindeswohlgefährdung in hochstrittigen Fällen mitunter erst aus der fehlenden Kompetenz beider Eltern, ihren Paarkonflikt von den Bedürfnissen des Kindes abzugrenzen, weil sie in der Folge das Kind im Scheidungsverfahren für ihre Ziele missbrauchen.

Die Erklärung für dieses Verhalten von grundsätzlich liebenden Eltern findet sich primär in der Psychologie. Einem oder beiden Eltern fehlt es – oft aufgrund der eigenen Vulnerabilität im Scheidungsprozess – an der nötigen Erziehungs-, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit. Wenn das Gericht in dieser Sachlage entsprechend dem «Kindeswohl» entscheiden soll, so ist zu bedenken, dass auch dieses letztlich nur ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, dessen Inhalt psychologisch geprägt ist. Folglich sind Juristinnen und Juristen regelmässig auf psychologisches Fachwissen angewiesen, um kindesrechtliche Fragen beurteilen zu können.

Für die Ausbildung von angehenden Anwälten und Richterinnen ist es von erheblicher Bedeutung, dass nicht nur familienrechtliches Wissen, sondern auch Grundkenntnisse über die psychologischen Hintergründe von innerfamiliären Konflikten vermittelt werden. Umgekehrt sind wir auf Psychologinnen und Psychologen angewiesen, die, wenn sie beispielsweise Gutachten erstellen, die rechtlichen Zusammenhänge erkennen (etwa den Einfluss ihrer Stellungnahme auf einen Obhuts- oder Kindesschutzentscheid). Kann die an der Universität Luzern geplante Fakultät für Verhaltenswissenschaften und Psychologie geschaffen werden, könnte dies in der Ausbildung zu einem fruchtbaren Dialog führen – und im besten Fall zu einem angemesseneren Umgang mit minderjährigen Scheidungskindern.

Es handelt sich um die Beantwortung der im Rahmen des Jahresberichts 2021 der Universität Luzern gestellten Frage.

Tanja Ivanovic

Anwältin und Notarin, Doktorandin an der Universität Luzern
unilu.ch/tanja-ivanovic