Hängt der Erfolg der Kinder vor allem vom sozialen Status der Eltern ab, wie manche Studien behaupten? Wer die soziale Dynamik in der Schweiz über mehrere Generationen untersucht, kommt zu einem anderen Schluss.

Melanie Häner, wissenschaftliche Assistentin, und Christoph A. Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie. (Bild: Silvan Bucher)

Als Rektor Peter Merian am 7. September 1860 am Ende seiner Festansprache zum 400-jährigen Bestehen der Universität Basel angekommen ist, lässt er es sich nicht nehmen, auf die Bedeutung des «unsichtbaren Bands» der familiären Tradition hinzuweisen: «Der Rector Rudolf Thurneysen erwähnt in seiner Jubelrede von 1760 des Umstandes, dass Lucas Gernler, der Festredner von 1660, der Urgrossvater seiner Ehefrau gewesen sei. Thurneysen ist auch der Urgrossvater der meinigen.»

Im selben Jahr geht der Rektor in einer Schrift noch eingehender auf die Thematik ein: «Acht Mitglieder der Familie [Bernoulli] haben sich durch ihre Leistungen in der Mathematik einen rühmlichen Namen erworben […]. Der mathematische Lehrstuhl an der vaterländischen Universität war während eines Zeitraums von 105 Jahren von einem Bernoulli besetzt […].» So manche Nachgeborene dürften sich fragen: Spricht dies für die Familie oder doch eher gegen die gesellschaftlichen Zustände von damals?

Während Merian die enge familiäre Verbindung als unerlässliche Stütze der Universität betont, steht diese Sichtweise also in einem Spannungsverhältnis zu den Postulaten der Chancengerechtigkeit. Das meritokratische Postulat garantiert, dass sich jede Person einen hohen sozialen Status erarbeiten kann, unabhängig von Privilegien qua Geburt wie etwa Vermögen, Bildungszugang oder Beziehungen. Diese gesellschaftliche Durchlässigkeit muss in beide Richtungen gewährleistet sein, also salopp formuliert: Aufstieg dank Leistung und Zerfall durch Müssiggang.

Bisherigen Studien zufolge vererben sich rund 45 Prozent des Erfolgs der Gegenwartsgeneration durch den Erfolg der Eltern.

Bisher ist der Forschungsstand zur sozialen Mobilität in der Schweiz noch sehr lückenhaft. Die meisten Studien berichten von eher geringeren Aufstiegschancen. Demnach vererben sich rund 45 Prozent des Erfolgs der Gegenwartsgeneration durch den Erfolg der Eltern. Auch das Schweizer Bildungssystem wird gerne dafür kritisiert, dass der Bildungsstand der Kinder stark durch den Bildungsstand ihrer Eltern geprägt werde. Dies hat zuletzt eine Studie des Schweizerischen Wissenschaftsrats von 2018 gezeigt. Dieser Studie zufolge erwerben durchschnittlich 13,5 Prozent der Kinder mit Eltern, die über ein niedriges Bildungsniveau verfügen, einen Fachhochschul- oder Universitätsabschluss – während es bei solchen mit gut gebildeten Eltern 51,8 Prozent sind.

Thomas Manns Verdienst

Die bisherigen Studien lassen allerdings Entscheidendes unberücksichtigt – man könnte es den Buddenbrooks-Effekt nennen. Was ist damit gemeint? Thomas Manns mit dem Nobelpreis geehrter Gesellschaftsroman von 1901 erzählt vom allmählichen, sich über vier Generationen hinziehenden Niedergang einer einflussreichen Lübecker Kaufmannsfamilie. Interessant sind dabei nicht nur die facettenreiche Familiengeschichte, die gesellschaftliche Rolle und das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, sondern auch der parallele Auf- und Abstieg anderer sich rivalisierender Familien – eine zyklische Geschichte von Erfolg und Misserfolg.

Die Familiengeschichte hat durchaus einen wichtigen Einfluss auf den Erfolg und damit den sozialen Status des einzelnen Individuums. Im Roman vergleicht die Figur Johann Buddenbrook die Familienbande mit einer Kette: «Wir sind […] nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen […].»

Kurzfristige Betrachtungen des gesellschaftlichen Erfolgs von einer Generation zur nächsten für die Beurteilung der sozialen Mobilität erweisen sich tatsächlich als trügerisch. Denn die so gemessenen Abhängigkeiten überschätzen die Beharrlichkeit, weil man den gesellschaftlichen Auf- und Abstieg der Familien über die Generationen selbst vernachlässigt. Unsere Analyse «The Name Says It All. Multigenerational Social Mobility in Switzerland. 1550–2019» bestätigt: Der Einfluss der Grosseltern auf den Erfolg der gegenwärtigen Generation verwässert sich bereits um die Hälfte, während für die Urgrosseltern gar keine statistisch zuverlässige Abhängigkeit mehr besteht. Die obengenannten Studien kranken also an einer allzu statischen Betrachtung. Damit gelingt es ihnen nicht, die längerfristige gesellschaftliche Dynamik zu begreifen, die für die Bewertung der sozialen Mobilität von entscheidender Bedeutung ist.

Blick bis zurück ins Spätmittelalter

Da keine zuverlässigen Einkommensdaten existieren, mit denen die Generationen verknüpft werden könnten, bedienten wir uns einer innovativen Methode, die mittels Nachnamen die Verfolgbarkeit der Sippe erlaubt. So konnten wir über 15 Generationen bis zurück ins Spätmittelalter identifizieren und Informationen erhalten, die sich anhand eines einzelnen Statusindikators wie des Einkommens nicht messen lassen.

Zu diesem Zweck werteten wir die Rektoratsmatrikel der Universität Basel seit ihrer Eröffnung im Jahr 1460 aus. Es geht also um die Frage der gesellschaftlichen Durchlässigkeit des Zugangs zur universitären Bildung. Seit 1550 waren 142'792 Studierende eingeschrieben, davon 31'275 Basler und Baslerinnen. Gleichzeitig wurden in Basel mehr als eine halbe Million Geburten registriert. Mit diesen Jahreswerten über knapp 500 Jahre lässt sich der Auf- und Abstieg einzelner Familien über Generationen verfolgen.

Wir können zeigen, dass die so gemessene soziale Mobilität für die jeweils erste Generation bei 60 Prozent liegt, während sie für die Grosseltern bereits auf über 80 Prozent ansteigt.

Wir können zeigen, dass die so gemessene soziale Mobilität für die jeweils erste Generation bei 60 Prozent liegt, während sie für die Grosseltern bereits auf über 80 Prozent ansteigt. Weniger als 20 Prozent des Erfolgs der gegenwärtigen Generation lässt sich also auf die familiären Bande mit den Grosseltern zurückführen. Was die Urgrosseltern anbelangt, hat die familiäre Zugehörigkeit keine Bedeutung mehr. Quervergleiche mit anderen Statusindikatoren wie Zunftmeister oder Erbschaftssteuern bestätigen unsere Resultate.

Die von Peter Merian erwähnten starken Familienbande finden wir bei 16 ausgewählten Familien auch in unserer Analyse wieder: So sind die sogenannten «Daig»-Familien im gesamten Zeitraum im Durchschnitt an der Universität Basel überrepräsentiert. Das heisst, dass deren Nachnamen unter den Immatrikulierten in der jeweiligen Generation häufiger vorkommen, als es die Häufigkeit unter den Neugeborenen erwarten liesse. Für die einzelnen Familien zeigen sich dabei sehr unterschiedliche Muster des Auf- und Abstiegs. Weiter gilt es zu beachten, dass diese Teilanalyse nur sehr ausgewählte Familien von hohem sozialem Status umfasst. Unser Nachnamensansatz erlaubt es jedoch, alle Familien zu berücksichtigen und damit eine durchschnittliche soziale Mobilität über 15 Generationen zu messen.

Chancengerechtigkeit intakt

Während also für ausgewählte Familien eine hohe Beharrlichkeit gemessen wird, liegt die durchschnittliche Mobilität für die Gesamtgesellschaft seit dem Spätmittelalter bei rund 60 Prozent. Um die Chancengerechtigkeit in der Schweiz ist es somit also keineswegs schlecht bestellt. Wichtig für eine belastbare Einschätzung ist dabei allerdings, nicht nur die kurzfristige Abhängigkeit zu betrachten, sondern die gesellschaftliche Dynamik des Auf- und Abstiegs von Familien zu berücksichtigen. Bleibt der Buddenbrooks-Effekt unberücksichtigt, wird die soziale Mobilität unterschätzt. Bereits nach drei Generationen stimmt das geflügelte Wort aus Goethes «Faust»: Name ist Schall und Rauch.

Melanie Häner arbeitet am Lehrstuhl von Professor Christoph A. Schaltegger. «The Name Says It All. Multigenerational Social Mobility in Switzerland. 1550–2019» stellt einen Teil ihrer kumulativen, von Schaltegger betreuten Dissertation dar.

Der Beitrag ist im Jahresbericht 2020 der Universität Luzern erschienen.