Wir alle müssen uns zeigen – ob mehr oder weniger gefiltert in den sozialen Medien, hochgradig strukturiert im Vorstellungsgespräch oder ganz auf den Körper fokussiert im Freibad. Der Historiker Valentin Groebner im Gespräch darüber, was wir wo über uns verraten müssen und welche Rolle dabei die Beichte spielt.

Valentin Groebner, Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance, in seinem Büro. (Bild: Philipp Schmidli)

Valentin Groebner, in Ihrem neuesten Buch «Bin ich das?» erzählen Sie «Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft» – so der Untertitel. Bücher zu schreiben, sei Ihre Art von Selfie, haben Sie in einem Interview gesagt, und tatsächlich geben Sie darin viel Persönliches preis, über Ihre Kindheit in Wien, ihr Leben in der BRD der 1980er- und in der Schweiz der 1990er-Jahre. Was verraten uns Ihre Essays über Ihre Tätigkeit als Historiker, als Professor an der Universität Luzern?

Valentin Groebner: Viel. Ich bin ja ein Geschichtenerzähler. Als Historiker forsche ich und publiziere für ein Fachpublikum. Aber wenn ich unterrichte, geht es darum, dieses erarbeitete Wissen zu vermitteln, an junge Menschen, die auf ihrem Bildungsweg vielleicht noch nicht viel mehr als eine Matura gemacht haben. Unterrichten an einer Universität unterscheidet sich radikal vom wissenschaftlichen Forschen. Wenn ich meinen Studierenden Entwicklungen aus dem 13. oder 16. Jahrhundert vermitteln will, bin ich gezwungen, diese in eine Erzählung zu packen, die von der Gegenwart ausgeht, in die Vergangenheit zurückspringt und dann wieder in der Gegenwart ankommt. Denn Geschichte als Wissenschaft muss sich immer auf das 21. Jahrhundert beziehen, auf Fragen, die heute interessant sind – worauf denn sonst?

Von welcher Gegenwart sind Sie ausgegangen, als Sie angefangen haben, sich mit Fragen rund um die Selbstauskunft zu befassen?

Zuvor hatte ich mich mit der touristischen Vermittlung von Geschichte beschäftigt, also dem Wunsch, in den Ferien in eine imaginäre, idyllische Vergangenheit zurückzukehren. Dann habe ich angefangen, über Selbstauskunft nachzudenken. Was hat die Praxis, die uns heute in den sozialen Medien umgibt, mit ihren historischen Vorläufern zu tun?

Wie kann man sich das ganz konkret vorstellen, dieses Nachdenken?

Nachdenken ist bei mir nie sehr theoretisch. In Wirklichkeit besteht es aus Ausprobieren. Und dafür sind Seminare wunderbar geeignet. Wenn ich eine Lehrveranstaltung zur Geschichte des Ich-Sagens im Mittelalter und in der Frühen Zeit unterrichte, kann ich mir darin ganz verschiedene Quellen ansehen und ausprobieren, mit welchen Stoffen sich welche Geschichten pointiert erzählen lassen. Für mich hängen Lehre und Forschung eng zusammen. In dem Buch gibt es ein langes Kapitel über Tattoos: Wie viel diese mit Selbstauskunft zu tun haben, ist mir erst in dem Seminar zur Geschichte des Tätowierens klar geworden, das ich hier vor einigen Jahren angeboten habe. Durch die Debatten mit den Studierenden ist für mich so viel Neues sichtbar geworden, dass daraus ein Essay entstanden ist, der nun auch Eingang in das Buch gefunden hat.

Studierende bringen Sie also auch als Forscher weiter?

Ja, weil sie unerwartete Fragen stellen und Dinge wissen, die mir neu sind. Ein Seminar ist ja kein Ort für unbegrenzte Selbstauskunft, aber man bringt sich gegenseitig auf Ideen. Sehr viel davon, was in meinen Büchern steht, ist durch die Arbeit mit den Studierenden entstanden; denn in den Veranstaltungen lernen ja nicht nur sie etwas. Unterrichten macht das vermeintlich Selbstverständliche und Bekannte wieder fremd, ich bin gezwungen, es mit den Augen zu sehen und den Ohren zu hören, die das erste Mal damit konfrontiert sind. Das verändert meinen Blick auf das Material. Und schliesslich ist Unterrichten Experiment im besten Sinn: Man probiert aus und lernt aus Misserfolgen. Oder wenn etwas gelingt.

Ich schaue auf Tattoos als jemand, der über Geschichte arbeitet, über Embleme und Bilder von früher.
Valentin Groebner

Wir haben das Thema Tattoos schon gestreift, aber da gibt es noch viel mehr zu erzählen. «Die Hitzesommer der letzten Jahre haben unübersehbar gemacht, dass die europäischen Durchschnittskörper sich in Zeichenträger verwandelt haben, in einen bunten, halböffentlichen Skizzenblock aus menschlicher Haut», schreiben Sie in Ihrem Buch. Diesen Skizzenblock haben Sie mittels einer «Schwimmbad-Ethnographie» zu erforschen angefangen, richtig?

«Deine Schwimmbad-Ethnographie ist unvollständig», so lautet das Zitat einer Wiener Freundin, das ich im Buch aufgenommen habe. Da ich als Hetero-Mann nicht in lesbischen Clubs unterwegs sei, entgingen mir ganz viele Tattoos – darauf wollte sie mich damit aufmerksam machen. Mein Essay beruht auf Beobachtungen in Schwimmbädern und Umkleidekabinen. Auf der Ufschötti und in der Tribschen-Badi gibt es viel Haut mit Bildern darauf, und dort habe ich das grosse Tattoo mit dem Löwendenkmal gesehen, das sich ein junger Mann auf seinen Rücken hat stechen lassen. Ich habe mich gefragt, was das mit Heimat zu tun hat, mit Herkunft und Festhalten an der Vergangenheit: definitiv ein Fall von Selbstauskunft! Und mein Blick ist natürlich auf bestimmte Weise geprägt: Ich schaue auf die Tattoos als jemand, der über Geschichte arbeitet, über Embleme und Bilder von früher.

Sie schreiben, Tattoos seien gleichzeitig ein Zeichen von Zugehörigkeit und Individualität. Wie geht das zusammen?

Die meisten Zeichen für Individualität beziehen sich auf Gruppen. Das kann man an den Tattoos sehr schön zeigen. Wenn man Zeichen auf sich trägt, die kein anderer Menschen versteht, dann wird es schwierig. Wenn wir von uns selbst Auskunft geben, geben wir nicht nur über unsere eigene Besonderheit Auskunft, sondern auch über diejenigen, zu denen wir gehören wollen. Denn Gruppen – und davon ist in dem Buch an mehreren Stellen die Rede – werden ja immer so hergestellt, dass man sich darauf einigt, wer die anderen sind, die Feinde, zu denen man ganz sicher nicht dazugehören will.


Typisch an Identität ist also, dass sie immer über die Zugehörigkeit zu Gruppen kommuniziert wird?

Das Wort «Identität» kommt kein einziges Mal vor in dem Buch, aus gutem Grund. Identität ist ein ziemlich problematisches Wort mit mehreren Bedeutungen, die einander widersprechen. Das ist kein analytischer Arbeitsbegriff, sondern eine Art Superkleber, ein Slogan. Vor den 1950er-Jahren hat Identität etwas völlig anderes bedeutet als heute. Tatsächlich stammt das Wort aus dem Mittelalter; nur hiess es damals etwas komplett anderes.

Was denn?

Identität ist ein Begriff aus der mittelalterlichen Logik, es geht um das Identisch-Sein unterschiedlicher Elemente im Sinne einer Gleichwertigkeit. Wir benutzen das Adjektiv «identisch» noch immer in diesem Sinne, mit Identität dagegen meinen wir Verschiedenheit und Besonderheit. Das ist die neue Bedeutung, die der Psychoanalytiker Erik H. Erikson vor 70 Jahren dem Wort gegeben hat – eine interessante Person, er selbst hat im Verlauf seines Lebens viermal den Namen gewechselt. Der Ausdruck Identität hat viel mehr mit der Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit zu tun als mit der weiter entfernten Vergangenheit. Ich bin Historiker und muss das ernst nehmen; darum kommt das Wort im Buch nicht vor.

Seit der Beichte sind wir gezwungen, von uns zu erzählen.

Sie haben eingangs diesen Prozess geschildert, in dem sie von Fragen der Gegenwart in die Vergangenheit zurückreisen und wieder zurück. Der Punkt, bis an den Sie in Ihrem Buch in die Vergangenheit reisen, ist klar benannt: das 4. Laterankonzil von 1215, wo die christliche Beichte als Pflicht eingeführt wurde.

Seit der Beichte sind wir gezwungen, von uns zu erzählen: Seit dem 4. Laterankonzil muss jede Christin und jeder Christ einmal im Jahr zur Beichte und dort berichten, was er oder sie falsch gemacht hat. Und dann bereuen – denn ohne Berichten und Bereuen bekommt man die Sünden nicht erlassen. Mit dieser Pflicht zur Selbstauskunft wird alles anders, neue Formen des Erzählens entstehen, es wird intimer, ironischer, vieldeutiger und vor allem persönlicher – die Novellen von Giovanni Boccaccio sind ein schönes Beispiel, oder die «Canterbury Tales» von Geoffrey Chaucer aus dem 14. Jahrhundert: Das sind Texte, die bis heute gelesen werden, weil sie ziemlich amüsant sind. Und voyeuristisch auch.

Hier kommt also das «Ich» ins Spiel?

Genau, man beginnt, auf eine neue Art und Weise über sich selbst zu reden, und betreibt Selbstauskunft in der ersten Person. Das passiert in den ersten eineinhalb Jahrhunderten nach der Einführung der Beichte. Vorher haben alle «Er» geschrieben, also in der dritten Person. Dann erscheinen die ersten Texte, in denen der Erzähler «Ich» sagt und auch sich selber meint. Dazu haben die Literaturwissenschaften viel geschrieben. Selbstauskunft entsteht in dieser Spannung von «Ich darf ich sagen» und «Ich muss ich sagen». Bis heute ist immer ein Element von Pflicht dabei, wenn es um Selbstauskunft geht.

Zur Beichte gehen heutzutage in der Schweiz nicht mehr viele Leute regelmässig. Kann man dieses Element der Pflicht denn noch festmachen in der Gegenwart?

Ja, in ganz alltäglichen Vorgängen: Man muss über sich selbst Auskunft geben, wenn man ein Benutzerprofil anlegt. Man muss über sich selbst Auskunft geben, wenn man sich für einen Job bewirbt. Beides ist nur halb freiwillig, und beides ist stark vorstrukturiert. Wenn wir uns selbst darstellen, tun wir das nach Vorbildern, Modellen, Fragekatalogen, die wir nicht selbst erstellt haben. Und dieses Erzählen wird immer detaillierter, nutzt nicht nur Text, sondern auch Bilder (siehe Box). Offenbar ist von der Selbstauskunft nie genug da.

Sieht man das auch an Plattformen wie LinkedIn? Dort kann ich Lebensläufe von sehr vielen Personen abrufen, die bis vor wenigen Jahren nicht greifbar waren.

Es ist nicht unbedingt so, dass die Informationen zuvor nicht öffentlich waren, es war nur sehr viel kostspieliger und zeitaufwändiger, sie zu sammeln. Früher war es ein Beruf, diese Informationen zu finden. Heute ist es eine Firma, die uns eine Assemblage von Datenbanken zur Verfügung stellt und sehr vieles somit einfach greifbar macht.

Die Digitalisierung hat viele frühere Kanäle sozusagen verschluckt und verdaut.

Die heutige Jugend weiss, dass sie digitale Spuren hinterlässt. Doch wer in den 1980er-Jahren an einem Geschichtenwettbewerb teilgenommen hat, konnte nicht damit rechnen, dass man dieses Werk dreissig Jahre später innert Sekunden finden wird.

Das gilt für viele Quellen aus der Vergangenheit. Um 1890 eine Zeitung zu lesen, musste man sie entweder selbst kaufen oder in dem Café etwas konsumieren, in dem sie auflag. Dreissig Jahre später waren die Zeitungen in den Bibliotheken verfügbar. Heute sind die Inhalte über digitale Kanäle zugänglich. Die Digitalisierung hat viele frühere Kanäle sozusagen verschluckt und verdaut. Im Prinzip ist das eine Radikalisierung der Idee der öffentlichen Bibliothek, die allen offensteht. Das gibt es noch gar nicht so lange, wir neigen dazu, das zu vergessen. Lesegesellschaften mit Zeitschriften gab es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, aber für die allermeisten – zum Beispiel für weibliches Dienstpersonal oder Bauern – waren sie nicht zugänglich. Da gab es unausgesprochene, aber sehr deutliche Zugangsschranken. Und die sind sicher niedriger geworden.

Es ist also dank der Digitalisierung sehr viel einfacher geworden, auf Selbstauskünfte anderer Personen zuzugreifen?

Ich wäre da vorsichtig. Digitale Kanäle machen nicht wirklich alles für alle sichtbar. Sie sind gleichzeitig Filter: Informationen, die nicht über digitale Kanäle zugänglich sind, werden durch das Internet sozusagen Geheimwissen. Und schliesslich muss man sich auch bewusst sein: Server werden abgeschaltet, Daten im Nachhinein verändert. Welche Version einer Selbstauskunft wann für wen verfügbar war, ist nachträglich gar nicht so einfach herauszufinden. Aber genau für diese Manipulationen interessiert sich eben die Geschichtswissenschaft.

«Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft» (S. Fischer, Frankfurt a. Main)

Eine eigene Sicht auf die Stadt

gespiegelte Fensterfront beim KKL Luzern
Gespiegeltes Luzern: eines der Postkarten-Sujets von Remo Infanger.

«Pic or it didn’t happen» lautet ein geflügeltes Wort in sozialen Medien – war man irgendwo, hat man etwas erlebt, muss ein Foto her. Tatsächlich war es nie zuvor so einfach, Bilder von hoher Qualität in enormen Mengen zu erstellen und mit anderen zu teilen. Doch aus der Möglichkeit, unser Leben in Bilder zu fassen, wird ein Imperativ, das zu tun. Und zwar so, dass die Bilder intuitiv verständlich sind: Wer in Luzern ist, knipst ein Wasserturmbild oder ein Selfie vor dem Löwendenkmal, reproduziert damit fortwährend ähnliche Sujets, mit denen auch um Touristinnen und Touristen geworben wird. Diese Motive nutzen auch Medien, um Ereignisse in der «Leuchtenstadt» zu verorten. Entsprechend dominant sind diese Sujets in gängigen Bildersammlungen.

Fotograf als Co-Dozent

«Das Wissen um Bildbestände und Sehgewohnheiten führt zur Wiederholung der immer gleichen Motive, Perspektiven und Kompositionen», erklärt Sebastian W. Hoggenmüller. Der Oberassistent am Soziologischen Seminar hat in einem Masterseminar mit seinen Studierenden diese routinisierten Fotopraktiken erforscht und hinterfragt. Ausgerüstet wurden die Studierenden dabei nicht nur mit theoretischem Wissen, sondern auch mit praxisnahen Inputs des freien Fotografen Felix Amsel, der die Lehrveranstaltung mit Hoggenmüller im Co-Teaching leitete.

Aus der Lehrveranstaltung ist im Anschluss das Projekt «Greetings from Lucerne. Alternative Stadtansichten im Postkartenformat» entstanden. Elf Studierende zeigen auf 30 Postkarten ihren (soziologisch geschulten) Blick auf Luzern. «Sie fotografierten allein oder in Zweiergruppen, mit dem Ziel, sich von eingeschliffenen Sehgewohnheiten und visuellen Handlungen zu distanzieren», erklärt Hoggenmüller. Ein Duo erkundete beispielsweise Orte, die alpin geprägte Namen tragen: Alpenquai, Pilatusplatz, Hotel des Alpes und Claridenstrasse – in Luzern wimmelt es von terminologischen Gebirgsablagerungen. Ein anderes Team betrachtete Luzern durch Fenster und schuf so ein visuelles Wechselspiel von öffentlichen und privaten Räumen, bei dem das Fenster als Brückenschlag zwischen den beiden Welten fungiert.

Doch die Studierenden lernten nicht nur ihren Blick zu reflektieren, sondern übten sich auch im Projekt- und Eventmanagement, schlossen Kooperationsverträge ab, führten Verhandlungen mit der Druckerei und organisierten sich mit der Kunsthalle Luzern, wo im Mai die Postkartenbox der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. All die Arbeit nahmen die Studierenden fern des Curriculums in Angriff. Und für die Idee, so resümiert Hoggenmüller, «dass die realisierten Fotografien ihren Weg zurück in den Stadtalltag und über dessen Grenzen hinaus finden. Soziologische Forschung, so der programmatische Gedanke, soll nicht nur Gesellschaft untersuchen, sie soll auch gesellschaftlich sichtbar sein.» (AC.)

Die Postkartenbox (30 Bilder für 20 Franken) ist in Luzern erhältlich bei Portmanngrafik an der Bruchstrasse 44 sowie im Büro von Luzern Tourismus an der Zentralstrasse 5.

Zusätzliche Informationen und Blick auf weitere Postkarten-Sujets