Die Erinnerungen, die mit einem im Historischen Museum Luzern aufbewahrten Trauerandenken verbunden sind, bleiben uns heute verschlossen. Im Gegenzug gibt es Aufschluss über die Trauerkultur des 19. Jahrhunderts und über ein beinahe vergessenes Kulturgut: die Haarkunst.

Totengedenken an Marie Winiker-Bösch (hier ohne Glashaube) im Historischen Museum Luzern. (Bild: Aline Stadler)

Man muss zweimal hinsehen: Ja, tatsächlich, die sogenannte Trauerweide des 1899 angefertigten Trauerandenkens besteht aus Haaren, aus Haaren der Verstorbenen. Sie thront himmelwärts über einem Mini-Grabstein; erdwärts befindet sich ein Bouquet aus künstlichen Blumen und einem glitzernden Schmetterling. Die Inschrift auf dem Grabstein, «Andenken an die liebe Mutter // Marie Winiker // geb. Bösch: // geb. 5. Dezbr. 1838 // gest. 1. Febr. 1899», verrät, dass das Objekt ihre Tochter oder ihr Sohn anfertigen liess.

Gemäss Informationen aus dem Staatsarchiv Luzern war die Weberin und Haushälterin Marie Winiker mit dem Scherenschleifer Franz Josef Winiker verheiratet und verstarb 61-jährig als Witwe. Das Trauerandenken nahm innerhalb der Familie die Funktion des Trauerns und Erinnerns ein. Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt zu solchen Totengedenken: «Sie waren Medien des Erinnerns und verfielen dem Vergessen.» So landete auch das vorliegende Andenken letztlich im Museum. Wo diese Grabstätte in Miniaturform wohl angefertigt wurde?

Spezialistin oder Spezialist am Werk

Ein solches Trauerandenken, wie es dem Historischen Museum Luzern vorliegt, scheint eher selten zu sein: Es gibt viele Trauerandenken aus Wachs- und Haararbeiten. Grundsätzlich sind sie jedoch häufiger in Form von Kastenbilder anzutreffen, die aufgehängt werden, als solche unter einer Glashaube. Im Museum des Klosters Heiligkreuz in Cham befinden sich jedoch zwei Objekte, die diesem ähnlich sind und ebenso eine Haar-Trauerweide beinhalten. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Klöstern eine grosse Vielfalt religiöser Kunsthandwerke, sogenannte Klosterarbeiten, hergestellt. Dazu gehörten Heiligen- und Andachtsbilder, Wachsfiguren, Flecht- oder auch Textilarbeiten für Gewänder.

Eine Rückverfolgbarkeit von Klosterarbeiten stellt sich allerdings als schwierig heraus. So oder so lässt die kunstvoll angefertigte Haar-Trauerweide vermuten, dass eine Haarspezialistin oder ein Haarspezialist dahinterstecken könnte. Im 19. Jahrhundert war die Haarkunst unter Männern und Frauen eine weit verbreitete Tätigkeit; es wurde gewoben, geflochten oder geklöppelt. Was hatten Haare dazumal für eine Bedeutung?

Starke symbolische Aufladung 

Wenn im 19. Jahrhundert eine Frau ins Kloster ging oder ein Kind in eine andere Stadt zog, liess sie oder es eine Haarlocke von sich zu Hause. Haare waren stark symbolisch aufgeladen: Sie repräsentierten, ja verkörperten einen Menschen, galten als Sitz des Lebens, der Seele und der Kraft. So kommt es nicht von ungefähr, dass Haare als Freundschafts- und Liebesbeweis sowie zur Erinnerung an Verstorbene in sogenannten «Sentimental-Schmuck» und in Totengedenken eingearbeitet wurden. Die Haarkunst erfuhr ein erstes Aufblühen zur Biedermeier-Zeit (1815–1848). Da kunstvolle Perücken im bürgerlichen Zeitalter immer weniger gefragt waren, brachten beschäftigungslos gewordene Friseure und Perückenmacher ihr Geschick in den Haararbeiten ein. Königin Victoria prägte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die europäische Trauerkultur mit formalisierten Verhaltens- und Kleidungsregeln. Sie selbst besass eine goldene, doppelseitige Memorybrosche mit einem Foto von ihrem verstorbenen Ehemann Prinz Albert auf der einen und einer Haarlocke auf der anderen Seite. 

Der hohe Stellenwert der Haare zog sich durch alle gesellschaftlichen Schichten; auch Menschen aus ärmeren Verhältnissen konnten sich Haararbeiten leisten oder selber anfertigen, während Gold und Silber zu teuer waren. In Anleitungsbüchern für nicht-professionelle Haarflechterinnen und Haarflechter wurde auf den hohen Symbolwert des Haares eines geliebten Menschen hingewiesen: Fremdes gekauftes Haar erwecke nicht die Gefühle einer starken emotionalen Verbundenheit, des Verlangens und der grossen Sehnsucht. 

Renaissance der Haarkunst

Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts gingen sowohl Klosterarbeiten als auch die Haarkunst immer mehr vergessen. Geschmackswandel und fehlendes Verständnis hat zu ihrem Verschwinden beigetragen, und die Haararbeiten wurden zunehmend durch die aufkommende Fotografie ersetzt. Dank dem Verfahren der Daguerreotypie waren Porträtaufnahmen nun klein genug, um für Schmuck und Erinnerungsbilder verwendet werden zu können. Doch: In der Ostschweiz, wo die Haarflechterei damals besonders ausgeübt wurde und in die Trachtenkleidung und den Trachtenschmuck einfloss, wird diese Kunst heute von Mina Inauen und Jakob Schiess weitergeführt. Mit dem eigenen Flechtstuhl (einer «Jatte») stellt Schiess sowohl klassische «Eicheli», die traditionellen Ohrringe der Innerrhoder Frauentracht, als auch von ihm entworfene Schmuckstücke aus Haaren her. Und weil jedes Haar einzigartig ist, ist jedes Schmuckstück ein Unikat. Das gilt auch für das Trauerandenken des Historischen Museums Luzern: Die Haare tragen das Leben von Marie Winiker in sich.

Aline Stadler

Masterstudentin der Kulturwissenschaften mit Major Philosophie

Öffentlicher Anlass am 16. September 2020

Die Langfassung dieses Artikels entstand im Seminar «Sachen machen. Dinge als Quellen der Kulturanalyse» bei Marianne Sommer, Professorin für Kulturwissenschaften. Im Rahmen dieses Seminars, das im vergangenen Frühjahrssemester zum dritten Mal stattgefunden hat, setzen sich Studierende mit Objekten aus dem Historischen Museum Luzern auseinander und publizieren dazu Beiträge, die in dessen Kanal der Open-Access-Plattform LORY publiziert werden. Neben Aline Stadler präsentieren Nadine Annen, Stefan Branca, Julia Eberle, Silvano Frei, Irene Herms und Stephanie Müller ihre Resultate am 16. September an einem öffentlichen, kostenlos besuchbaren Anlass im Museum. Mehr Informationen