In aktuellen Krisen erscheint die Kirche oft weit weg vom Konkreten. Dabei hätte sie Potenzial, nicht nur das jenseitige, sondern auch das diesseitige Heil zu thematisieren. Was es dazu im Verständnis der Theologie von der Welt braucht, untersucht Franca Spies.

Dr. Franca Spies, Oberassistentin an der Professur für Fundamentaltheologie (Bild: Silvan Bucher)

Franca Spies, in Ihrer Habilitation untersuchen Sie das Verhältnis des Christentums zum Materiellen, zur physischen Welt. Warum ist dieses Verhältnis eher angespannt?

Franca Spies: Es gab in den letzten Jahrzehnten immer wieder den Vorwurf, dass sich die Theologie zu stark auf das Geistliche konzentriere. Das Weltliche ist dabei sozusagen ein Durchgangsstadium – wir sind Pilgerinnen und Pilger auf Erden. Was uns ausmacht, ist unsere Herkunft und unsere Zukunft, und die ist jeweils göttlich und damit immateriell. Dementsprechend kann man der Theologie und den christlichen Glaubens­über­­zeu­gun­gen, die ich in meinem Fachgebiet – der systematischen Theologie – untersuche, schon weitgehend attestieren, dass es erstens einen latenten Dualismus zwischen Geistigem und Materiellem gibt und zweitens eine offene Hierarchisierung des Geistigen über das Materielle.

Weshalb finden Sie es wichtig, dieses Thema genauer anzuschauen?

Tatsächlich könnte man ja sagen, das sei für eine Glaubensgemeinschaft nicht so schlimm; das Materielle vergeht und das Geistige ist dagegen hoffentlich eine bleibende Grösse, an der wir uns festhalten können. Aber es hat eben dort seine Schattenseiten, wo zum Beispiel ökologische Fragen aufkommen. Ans Christentum, aber auch an andere Re­li­gio­nen wurde bisweilen der Vorwurf gerichtet, dass sie die ökologische Krise befördert hät­ten. Das muss man nicht in dieser Schärfe vertreten und kann doch feststellen, dass wir begrifflich auch im Christentum irgendwie mit der ökologischen Krise umgehen müssen. Und solange wir sagen, dass wir nur Pilgerinnen und Pilger auf Erden sind, wird das schwierig.

Was wir von Gott sagen, darf kein für uns fremdes Sonderwissen in Anspruch nehmen, sondern muss mit der Vernunft nachvollziehbar sein.
Franca Spies

Wo besteht konkreter Nachholbedarf für die Theologie?

Die christliche Botschaft spricht mit ihrer Fixierung auf Sünde und Erlösung zuerst einmal sehr stark über eine individuelle, jenseitige und damit immaterielle Heilshoffnung. Dass man diese Botschaft genauso gut so artikulieren kann, dass Sünde und Erlösung auch eine nichtmenschliche und ausdrücklich materielle Komponente haben, erscheint möglich, aber das wird bisher vergleichsweise wenig gemacht. Hinzu kommt, dass die katholische Theologie die Aufklärung recht spät verarbeitet hat und sich erst im 20. Jahrhundert stärker auf den Menschen zu fokussieren begann. Dieser Fokus auf den Menschen erfüllt eine wichtige kritische Funktion: Die Theologie «erdet» damit ihre Erkenntnisse. Was wir von Gott sagen, darf kein für uns fremdes Sonderwissen in Anspruch nehmen, sondern muss mit der Vernunft nachvollziehbar sein. Und doch erscheint diese anthropologische Zuspitzung mittlerweile schon wieder etwas verspätet, denn nicht nur aus der öko­lo­gi­schen Bewegung, auch aus unterschiedlichen philosophischen Strömungen kommt eine einigermassen scharfe Anthropozentrismuskritik, die theologisch verarbeitet werden will.

Jetzt suchen Sie in Ihrem Projekt nach Antworten, wie die Theologie den Zugang zum Materiellen finden kann. Worauf können Sie sich dabei stützen?

Es gibt ganz viele positive Anknüpfungspunkte aus biblischen und theo­logie­ge­schicht­lichen Quellen, und das ist auch das, was ich herauszuarbeiten versuche. Das Christentum hat eigentlich gute begriffliche Möglichkeiten, sehr positiv über die materielle Welt zu sprechen. Allein schon davon auszugehen, dass die Welt, in der wir leben, Gottes Schöpfung ist, ist ja eine grosse Würdigung, denn damit gilt grundsätzlich: «Was ist, ist gut.» Verschiedene theologische Ansätze heben in der Folge besonders die innere Harmonie der Schöpfung hervor und bewerten das Zusammenspiel der verschiedenen Arten des Geschaffenen positiv. Das bleibt bis heute ein wichtiger Anspruch: Wenn man sich zu stark auf den Menschen und den menschlichen Geist fokussiert, wird man diesem Ansatz nicht gerecht. Die nichtmenschliche Schöpfung ist nicht nur in Bezug auf den Menschen relevant und die materielle Schöpfung nicht nur in Bezug auf den Geist, sondern in ihrer eigenen Würde. Dieses theologische Potenzial versuche ich zu realisieren.

Dafür knüpfen Sie auch Verbindungen mit philosophischen und soziologischen Theorien. Weshalb?

Nach meinem Verständnis ist die Theologie immer aufgefordert, beim Aufkommen neuer Denkmuster zu prüfen, ob diese uns helfen, unsere Überzeugungen rational auszulegen. Die Glaubensüberzeugungen stehen ja nicht für sich. Da gab und gibt es immer Anstösse von aussen, sie zu überprüfen und in die aktuelle Zeit mit ihren Herausforderungen zu übersetzen, ansonsten würden sie leblos. Sie müssen anschlussfähig an aktuelle Debatten formuliert werden, sonst bleiben wir in unserer Sonderwelt. Gerade in der Bewertung des Materiellen muss man sich also ausserhalb der Theologie umsehen, auch weil das bisher kaum ein genuin theologisches Thema ist. Insofern lohnt es sich für mich, die aktuellen Debatten in Soziologie und Philosophie anzuschauen, von denen ich lernen kann. Die Frage des Materiellen ist gerade unter dem Eindruck der ökologischen Krise in den letzten Jahren wieder zunehmend aufgekommen. Dabei versucht man häufig, auf das Materielle, das Kulturelle und das Soziale in ihren Wechselwirkungen zu blicken. Mit diesem aus­ge­wo­ge­nen Gesamtbild erscheinen mir solche Ansätze als gute «Gesprächs­partner­innen» für die Theologie, die ja gerade keinen einfachen Materialismus vertreten kann.

Gerade in der Bewertung des Materiellen muss man sich ausserhalb der Theologie umsehen, auch weil das bisher kaum ein genuin theologisches Thema ist.

Was kann denn umgekehrt die Theologie in die Debatten anderer Fächer einbringen?

Natürlich versteht sich die Theologie als eine kritische Auseinandersetzung mit einem spezifischen Glaubenssystem. Wir haben damit die Instrumente, philosophische Debatten zu führen. Nicht zuletzt widmet sich die Theologie, gerade weil die Frage des Heils darin so zentral ist, immer auch Fragen der Bewertung des Gegebenen, Fragen des guten Lebens oder von anderen Normativitäten. Wir suchen also nicht nur solche Orientierungen, sondern haben auch eine Art Wissen darüber, wie sie gewonnen und geltend gemacht werden können. Einfacher gesagt: Ich werde nicht in einer fächerübergreifenden Debatte für den Umweltschutz werben können, weil die Welt Gottes gute Schöpfung ist. Diese Überzeugung teilen zu wenige Menschen. Aber ich kann mich theologisch dazu mo­ti­vie­ren lassen, diese Debatten über mein Fach hinaus zu führen. Und ich kann andere Fächer dazu auffordern, ihre eigenen Denkvoraussetzungen ebenso offenzulegen, wie ich das als Theologin tun muss.

Hat Sie bei dieser Arbeit etwas überrascht?

Ich habe gemerkt, dass ich auch meine eigenen Vorurteile überwinden muss. Es gibt in der Theologie sehr viel mehr positive Anknüpfungspunkte für meine Forschung, als ich vermutet hätte. So muss man gar nicht ein neues Paradigma einführen, sondern kann auch schauen, wo in vorhandenen Denktraditionen ein Spielraum vorhanden ist, den man aus­nutzen kann. Diese Erkenntnis und Selbsterkenntnis hat auch damit zu tun, dass ich für mein Projekt im Sommer 2022 ein SpeedUp-Sabbatical der Universität Luzern erhalten habe, wodurch ich mich sehr systematisch und konzentriert mehrere Monate einzig mit diesen Fragen auseinandersetzen konnte. Das Ergebnis wird dadurch aus einem Guss kommen und ich werde mehr fachinterne und fachübergreifende Verbindungen herstellen können, als das mit einem Projekt über mehrere Jahre nebst anderen Verpflichtungen möglich gewesen wäre.

Wie geht es mit dem Forschungsprojekt weiter?

Mein Ziel in der Verschriftlichung ist es, mögliche Synergien aufzuzeigen, also Quer­ver­bin­dun­gen von fachfremden Debatten und systematischer Theologie zu ziehen. Das ist auch im Sinne der Methoden des neuen Materialismus, der weitgehend trans­disziplinär arbeitet. Diese neue Form der Wissenskultur finde ich sehr spannend. Ich möchte sichtbar machen, wo ganz unterschiedliche Richtungen ähnliche Anliegen verfolgen und wie sich die Fächer dadurch neu verstehen können. Es kann für die Theologie, die oft etwas isoliert wirkt, attraktiv sein, wenn sie sich auf diese Debatten einlässt. Und umgekehrt kann es für andere Richtungen angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen, die die ganze Welt betreffen, interessant sein, sich einmal auf theologische Argumentationen einzulassen, die so oft einen inneren Drang mitbringen, das Gute zu sehen und zu
befördern.

«Das Materielle in Schöpfung und Inkarnation» ist ein laufendes Projekt, für das Dr. Franca Spies 2022 ein SpeedUp-Sabbatical erhalten hat. Sie gehört als eine von gegenwärtig acht Habilitierenden zusammen mit 57 Doktorierenden zu den Nachwuchsforschenden der Theologischen Fakultät.

Franziska Winterberger arbeitet an der Theologischen Fakultät im Bereich Kommunikation und Wissenstransfer. Der Text ist im Jahresbericht 2022 der Universität Luzern erschienen.