Bei der Therapieforschung wurde bislang zumeist auf ein standardisiertes Vorgehen einer bestimmten Theorierichtung gesetzt. Dieses Muster möchte Professor Andrew Gloster zugunsten individuellerer Behandlungsmöglichkeiten aufbrechen.
Andrew Gloster, warum ist die Forschung im Bereich der klinischen Psychologie und Psychotherapie heute wichtiger denn je?
Andrew Gloster: Mehr Menschen als je zuvor sind von psychischen Problemen betroffen – Schätzungen zufolge leiden zwischen 15 und 33 Prozent der Bevölkerung an einem diagnostizierbaren psychischen Problem. Unbehandelte psychische Erkrankungen verursachen nicht nur enorme gesellschaftliche Kosten, sondern beeinträchtigen auch das Leben der Betroffenen massiv. Angesichts dieser Herausforderungen muss die klinische Psychologie Wege finden, um wirksam zu helfen und Fachkräfte auszubilden, die in verschiedensten Settings – von klassischen Therapieräumen über Kliniken bis hin zu Online-Angeboten – kompetent intervenieren können.
Sie sind ein überzeugter Verfechter und Experte der Prozessbasierten Psychotherapie (PBT). Wie unterscheidet sich dieser Ansatz von traditionellen psychotherapeutischen Methoden?
Die Prozessbasierte Therapie ist ein umfassender Ansatz, der es uns ermöglicht, über jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Therapieschulen hinwegzublicken. Sie vertritt jedoch nicht die Ansicht, dass alle Interventionen gleich wirksam sind. Stattdessen fokussiert sich die PBT auf empirisch belegte Wirkmechanismen oder Prozesse, die das Wohlbefinden von Menschen mit psychopathologischen Symptomen wie zum Beispiel Depression, Angst, Sucht, suizidalem Verhalten oder Burnout verbessern. Dabei werden Verfahren aus verschiedenen therapeutischen Schulen herangezogen – entscheidend ist, dass sie wissenschaftlich fundiert sind. Das Ziel der PBT ist es, unter Berücksichtigung motivationaler, affektiver und kognitiver Aspekte sowie des spezifischen Lebenskontexts des Individuums genau dasjenige Verfahren zu ermitteln und anzubieten, das für diesen Menschen in diesem Moment und mit diesem Problem am effektivsten ist. Dieses personalisierte Vorgehen kann die Effizienz der Therapie steigern.
Gibt es neue Technologien oder Methoden, die Ihrer Meinung nach die klinische Psychologie in den nächsten Jahren massgeblich verändern könnten?
Definitiv. Ich sehe drei zentrale Entwicklungen in der klinischen Psychologie, die uns die Chance auf sinnvolle Verbesserungen bieten. Erstens personalisierte Psychotherapie: Fortschritte in der Datenerhebung ermöglichen eine enge Verzahnung von individuellen Assessments und massgeschneiderten Therapieansätzen. Zweitens mobile Technologien: Durch den Einsatz von Apps und Wearables können im Alltag relevante Informationen gesammelt werden, die eine kontinuierliche und passgenaue Betreuung ermöglichen. Und drittens Datenanalyse und künstliche Intelligenz: Moderne Analysemethoden, wie maschinelles Lernen, liefern die nötige Rechenleistung, um Daten rascher auszuwerten und Therapeutinnen und Therapeuten sowie Patientinnen und Patienten zeitnah mit entscheidenden Informationen zu versorgen.
Dank moderner Technologien, Datenwissenschaft und Statistik können wir die Psychotherapie zunehmend personalisieren.
Was muss geschehen, damit Prozessbasierte Psychotherapie in der klinischen Praxis stärker integriert wird?
Meiner Meinung nach stehen wir an einem Wendepunkt: Dank moderner Technologien, Datenwissenschaft und Statistik können wir die Psychotherapie zunehmend personalisieren. Es gilt, Studierende von Beginn an in diesen Methoden zu schulen, um hochqualifizierte Fachkräfte auszubilden und die Kluft zwischen Forschung und Praxis zu überwinden. Zudem intensivieren wir die Zusammenarbeit mit Kliniken und Spitälern, um einen regelmässigen Austausch zu gewährleisten.
Seit dem letzten Herbst kann an der Universität Luzern ein MAS in Prozessbasierter Psychotherapie absolviert werden. Was sind die zentralen Inhalte dieses Weiterbildungsprogramms und wie profitieren die Teilnehmenden?
Während des MAS in Prozessbasierter Psychotherapie erwerben die Studierenden fundierte Kenntnisse über die neusten Interventionen und deren Anwendung in verschiedenen Settings. Die Ausbildung umfasst praxisnahe Workshops, Supervision und Selbsterfahrung, wodurch die Teilnehmenden optimal auf ihre künftige Arbeit vorbereitet werden.
Welche Vorteile bringt diese Ausbildung für Luzern und die Region?
Während ihrer Weiterbildung arbeiten die Teilnehmenden bereits in Institutionen wie der Luzerner Psychiatrie (LUPS) und leisten so einen wertvollen Beitrag zur psychotherapeutischen Grundversorgung. Angesichts des Fachkräftemangels ist dies eine bedeutende Chance für Luzern und die umliegende Region. Langfristig stärkt die Universität Luzern damit die Sicherstellung einer hochwertigen psychotherapeutischen Versorgung in der Zentralschweiz.
Unsere Forschung zeigt, dass selbst Menschen, die als ‹therapieresistent› galten, von individualisierten Ansätzen profitieren können.
Sie erwähnen die LUPS. Gibt es bereits Kooperationen mit lokalen Institutionen oder Gesundheitseinrichtungen in Luzern?
Ja, wir arbeiten bereits erfolgreich mit der LUPS und dem Luzerner Kantonsspital (LUKS) in Lehre und Forschung zusammen und planen, diese Partnerschaften in den kommenden Jahren weiter auszubauen. Darüber hinaus werden wir mit weiteren Institutionen in der Zentralschweiz kooperieren – sei es in der Forschung, bei Masterarbeiten, Praktika oder bei der Erprobung neuer Interventionen.
Abschliessend: Wie können die innovativen Ansätze der PBT dazu beitragen, unser Gesundheitssystem zukunftssicher und patientenorientierter zu gestalten?
Ein zentraler Teil meiner Mission ist es, therapeutische Interventionen zu optimieren und gleichzeitig Fachkräfte in die Lage zu versetzen, ihre Arbeit effizienter zu gestalten. Unsere Forschung zeigt, dass selbst Menschen, die als ‹therapieresistent› galten, von individualisierten Ansätzen profitieren können. PBT kann auch präventiv eingesetzt werden und hat so das Potenzial, Burnout und stressbedingten Erkrankungen vorzubeugen und kann langfristig dazu beitragen, die Kosten im Gesundheitssystem zu senken.
Mehr Informationen zur Weiterbildung MAS in Prozessbasierter Psychotherapie
Das Interview ist im Jahresbericht 2024 der Universität Luzern erschienen.