Die Figur des Anderen findet sich in der Theologie in unterschiedlichen Kontexten: Da, wo es um das Verhältnis der Menschen zueinander geht. In Debatten um das Verhältnis von Kirche und Welt. Und in Diskursen über das Verhältnis Gottes zur Schöpfung.

klein abgebildete Frau, die ihren Blick aus einer Höhle heraus in die Ferne richtet
(Bild: istock.com/deimagine)

Das Andere – Gegenbegriff zu Demselben, zu dem Mit-sich-Identischen – kann in all diesen Auseinandersetzungen als Sinnbild der Hoffnung, aber auch als Quelle von Herausforderungen zutage treten. In jedem Fall aber markiert es eine Distanz, einen Unterschied zwischen zwei Grössen, die denkerisch und existenziell zuallererst ins Verhältnis zu setzen sind. Drei Schlaglichter:

In der am Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von jüdischen Denkern entwickelten Dialogphilosophie wird der Andere zum Ausgangspunkt allen Philosophierens. «Der Mensch wird am Du zum Ich», so Martin Buber 1923 in «Ich und Du». Der Andere tritt als Gegenüber des Subjekts in Erscheinung – es soll ihm philosophisch endlich der Rang zugesprochen werden, der ihm gebührt. Die Dialog- wendet sich gegen die Subjektphilosophie, die mit René Descartes im 17. Jahrhundert ihren Anfang genommen und im Deutschen Idealismus an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt gefunden hat. Hat die neuzeitliche Philosophie die Subjektivität aller Erkenntnis zur Geltung gebracht, so lenkt die Dialogphilosophie den Blick auf den Anderen: Dieser könne nicht darauf reduziert werden, Objekt meiner Erkenntnis zu sein. Er begegne mir vielmehr als selbstständiges und widerständiges Gegenüber, als nie ganz erfassbares Du. Die Dialogphilosophie hat Vereinnahmungstendenzen der neuzeitlichen Subjektphilosophie aufgedeckt, aber sie bleibt doch auch an deren Vermächtnis gebunden: Wer dem Anderen begegnen will, muss immer schon bei sich sein. Ethisch ausgedrückt: Nächstenliebe setzt Selbstliebe voraus.

Wie weit sich die Kirche der Welt öffnen soll; dies wird gegenwärtig kontrovers diskutiert.

Angesichts der gegenwärtigen Krise sieht sich die katholische Kirche herausgefordert, neu über das Verhältnis von Kirche und Welt nachzudenken. Insofern sich die Kirche nie mit der Welt identifiziert hat – Jesus sagt, sein Königtum sei nicht von dieser Welt (Joh 18,36) –, ist die Welt immer schon das Andere ihrer selbst. Die Kirche geht gleichwohl nicht auf Distanz zur Welt, hat Jesus die Jünger doch gerufen, in die Welt hinauszugehen und das Evangelium allen Geschöpfen zu verkünden (Mk 16,15). Wie weit sich die Kirche der Welt öffnen soll; dies wird gegenwärtig jedoch kontrovers diskutiert: Plädieren die einen dafür, das Gespräch mit der Welt zu intensivieren, so beklagen die anderen eine zu starke Anpassung an die Welt. Ob die Kirche die gegenwärtige Krise bestehen kann, wird massgeblich daran hängen, ob sie sich von der Welt – von deren Bewusstsein für die Gleichberechtigung aller Menschen, für die Autonomie des Subjekts und für die Pluralität der Weltanschauungen – korrigieren und verwandeln lässt.

Die Theologie der Gegenwart ringt mit dem Verhältnis Gottes zur Schöpfung. Es stehen sich zwei Modelle gegenüber: der klassische Theismus und der Panentheismus. Nach ersterem hat Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen, er hat die gefallene Menschheit durch seinen Sohn Jesus Christus erlöst, und er wird die Welt vollenden. Wie das Schöpfungs-, so setzt auch das Erlösungshandeln eine prinzipielle Distanz von Gott und Welt voraus: Gott ist im Verhältnis zu seiner Schöpfung der Andere. Der Panentheismus geht demgegenüber davon aus, dass alles weltliche Geschehen sich in Gott vollzieht: Gott handelt nicht jenseits von Natur und Geschichte, sondern immer nur in Natur und Geschichte. Die klassische Schöpfungslehre, die klassische Eschatologie und ein mit den Naturgesetzen nicht vereinbarer Wunderbegriff werden gleichermassen verabschiedet. Hinter dieser Auseinandersetzung steht die Frage, inwieweit Gott im Verhältnis zur Schöpfung als der Andere gedacht werden kann oder muss. Wie man diese Frage für sich beantwortet, wird zum einen davon abhängen, ob man die Rede von einem weltjenseitigen Gott auch im Zeitalter der Naturwissenschaften für vertretbar hält, und zum anderen davon, ob man an einer über diese Welt hinausgehenden Erlösungshoffnung festhalten will.

Wenn das Andere und das Vertraute nicht gegeneinander ausgespielt werden, öffnet es uns die Augen.

Was mit der Rede vom Anderen genau gemeint ist, hängt vom jeweiligen Diskurs und vom Standpunkt ab. Es handelt sich um einen Relationsbegriff, zunächst unabhängig von irgendwelchen Inhalten. Dennoch kann man beobachten, wann der Begriff des Anderen auftaucht: Unter Rückgriff auf das Andere werden geschlossene Systeme aufgebrochen, es werden verfahrene Situationen kritisiert, und es wird die reine Faktizität transzendiert. Auf diese Weise kommt das bislang nicht hinreichend Bedachte in den Blick – als weiterer Horizont, als normativer Massstab oder als unerwartete Hilfe. Freilich: Ein Horizont wird sich nur dann weiten, wenn er den bisherigen Horizont integrieren kann. Ein Massstab wird sich nur durchsetzen, wenn er mit bewährten Massstäben vermittelt werden kann. Und Hilfe wird sich leichter einstellen für den, der schon jetzt an sie glauben kann. – Wenn das Andere und das Vertraute nicht gegeneinander ausgespielt werden, öffnet es uns die Augen.

Foto Margit Wasmaier

Margit Wasmaier-Sailer

Seit August 2019 Assistenzprofessorin für Fundamentaltheologie. Im aktuellen Herbstsemester führt sie die Lehrveranstaltungen «Gott als Schöpfer und Erlöser der Welt», «Wie kann Kirche ein Ort des Heils sein?» und «Die Theodizeefrage als Herausforderung für die Rede von Gott» durch.
unilu.ch/margit-wasmaier