Sich mit anderen freuen, gemeinsam trauern oder wütend sein: Der Mensch kann auf verschiedene Arten mitfühlen. Das ist in der digitalisierten Welt – und auch in Zeiten von Corona – allerdings nicht einfacher geworden, so Philosophie-Doktorand Manuel Camassa.

grafische Darstellung zweier ineinandertauchender Gesichter im Profil
(Symbolbild; ©istock.com/Kateryna Kovarzh)

Manuel Camassa, im Rahmen Ihrer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Dissertation beschäftigen Sie sich mit Empathie. Was ist menschliche Empathie überhaupt?

Manuel Camassa: Es ist ein psychologischer Prozess, der es uns Menschen erlaubt, uns auf andere einzustimmen. So können mentale Zustände und Emotionen übereinstimmend mit jemand anderem empfunden werden. Der Grad der Annäherung dieser Emotionen oder mentalen Zustände ist dabei variabel. Wichtig ist, dass man die Differenzierung zwischen dem Selbst und dem Anderen aufrechterhält. Empathie ist keine Identifizierung mit dem Anderen. 

Empathie setzt also das Andere voraus. Verändert sich Empathie durch die globalisierte Welt?

Empathie hat sich entwickelt, als Menschen in kleinen Gemeinschaften lebten. Damals fühlte man Empathie vor allem mit Leuten, mit denen man unmittelbar in Kontakt kam. Internet, Globalisierung und Migration haben unsere Kontakte zu anderen vervielfacht. Da sich die Grenzen unserer Welt erweitert haben, sollten sich auch die Grenzen der Empathie erweitern. Das ist aber schwierig. Es braucht Zeit. 

Ist es überhaupt möglich, Empathie für Menschen fern von uns zu haben?

Es ist möglich, wenn auch nicht so leicht, wie das Aufbringen von Empathie für die eigene Mutter. Mein Forschungsprojekt hat den Titel «The Shared World»: Empathie ist der wichtigste Mechanismus, den wir haben, um diese Sharing Quality zu erleben. Sobald ich den Anderen aber auf Grund von Vorurteilen als zu verschieden wahrnehme, um ihn zu verstehen, wird Empathie erschwert. Die Nationalsozialisten beispielsweise waren zwar empathisch, aber nur gegenüber ihresgleichen. Nicht gegenüber Juden, Roma, Linksorientierten usw. In ihrem Verständnis waren diese Leute keine vollwertigen Menschen. Es muss anerkannt werden, dass wir alle gewisse Emotionen, Bedürfnisse, Wünsche und deswegen auch Rechte teilen. Ich kann Empathie für jeden noch so entfernten Menschen haben, solange ich finde: Was für mich gilt, gilt auch für ihn. 

Manuel Camassa: «Zusätzlich zu philosophischen Texten ziehe ich psychologische und neurowissenschaftliche Texte hinzu.»

In letzter Zeit hat die Corona-Pandemie unsere Welt auf den Kopf gestellt. Hat sich das auch auf die Empathie ausgewirkt? 

Die Pandemie hat sicher Einfluss. Die Masken beispielsweise, die wir zum Schutz tragen, erschweren das Lesen von Mimik. Zusammen mit Gestik, Körpersprache und Ton informiert uns diese als Erstes, wie sich unser Gegenüber fühlt. Es ist unbestreitbar, dass heutzutage etwas bei unserer Kommunikation gehemmt ist. Zudem hat der Lockdown die Grenzen unserer sozialen Welt stark reduziert. Wir sind verschlossen in unserer eigenen, inneren Welt und haben nicht denselben Kontakt zu anderen Personen wie vor der Pandemie. Das wiederum erschwert Kommunikation, und die fehlende Nähe kann zu Depressionen führen. 

Wie gelangen Sie als Philosoph zu Ihren Erkenntnissen?

In der Philosophie gibt es unterschiedliche wissenschaftliche Methoden. Manche Philosophinnen und Philosophen bewegen sich innerhalb einer bestimmten philosophischen Tradition, andere wollen spezifische Probleme lösen oder forschen zur Arbeit eines anderen Philosophen. Was sie alle gemeinsam haben, ist das Interesse, neue Fragen zu stellen oder Antworten auf alte Fragen zu erarbeiten. Das geschieht über Lesen, Denken und Schreiben. Bei meiner Forschung ist vielleicht der fächerübergreifende Ansatz besonders: Zusätzlich zu philosophischen Texten ziehe ich psychologische und neurowissenschaftliche Texte hinzu, die wichtige Einsichten geliefert haben. Empathie ist ein Thema, das nur interdisziplinär verstanden werden kann. 

Sind Sie in Ihrer Forschung auf Resultate gestossen, die Sie überrascht haben? 

Ich bin jemand, der schwer zu überraschen ist. Was mich jedoch erstaunte: Empathie ist auch für unser moralisches Denken und Handeln zentral. Am Anfang meiner Forschung war ich überzeugt, dass Empathie keine grosse Rolle in der Moral spielt. Ich dachte, Moral setze sich lediglich aus rationalen Prinzipien zusammen. Doch ohne Wir-Dimension gäbe es keine Moralität. Ein Beispiel: Wenn ich eine ältere Frau mit Einkaufstüten im Bus stehen sehe, kann ich durch empathisches Empfinden gleichzeitig die Möglichkeit der moralischen Handlung erkennen. Das heisst, ich sehe eine ältere Frau, die müde ist, Hilfe braucht und vielleicht sitzen will. Empathie ermöglicht uns moralisches Wahrnehmen, das zu moralischem Urteilen und schliesslich moralischem Handeln – ich biete der Frau meinen Platz an – führt. 

Die Finanzierung durch den SNF ist Ende Mai ausgelaufen, und Sie haben Ihre Dissertation zu Ende geschrieben. Welche Erkenntnis ist dabei herausgekommen?

Wenn ich mich nicht täusche und meine Argumente korrekt sind, dann wäre es ein grosser Fehler, eine Ethik ohne Empathie zu entwickeln bzw. zu unterstützen, wie dies Anti-Empathikerinnen und -Empathiker (siehe Box) möchten. Zudem hat die zentrale Bedeutung der Empathie auch meinen Blick auf mein eigenes Leben und auf meine Beziehungen zu anderen verändert: Empathie hat die Macht, zwischenmenschliche Beziehungen unter einem neuen Licht erstrahlen zu lassen.

Toni Rasic ist Masterstudent der Philosophie mit Nebenfach Ethik.

Moralische Dimension

Im Anschluss an sein ebenfalls an der Universität Luzern erfolgtes Masterstudium hat Manuel Camassa 2017 einen Doc.CH-Beitrag des SNF einwerben können (siehe früheren Beitrag). Damit war es möglich, seine Doktorarbeit «The Shared World. On the Power and Limits of Empathy» (dt. «Die geteilte Welt. Über die Macht und die Grenzen der Empathie») auf entlöhnter Basis zu realisieren. Nach vier Jahren Arbeit ist die von Philosophie-Professor Martin Hartmann betreute Studie nun eingereicht; den Abschluss bildet die voraussichtlich in diesem Herbst/Winter stattfindende mündliche Verteidigung. 

Am Anfang von Camassas Überlegungen steht die Feststellung, dass Empathie immer mehr «in Mode» gekommen ist und die Forschung dazu stetig zunimmt. Er unternimmt eine erkenntnistheoretische Analyse des empathischen Phänomens, das er von anderen ähnlichen Phänomenen wie Sympathie oder Mitgefühl abgrenzt. Auch diskutiert der Philosoph verschiedene Ansätze zur Empathie und die Art und Weise, wie Menschen sich in andere einfühlen können. Ein zentraler Punkt ist die Untersuchung der möglichen moralischen Rolle, die Empathie spielen kann. Dabei widerlegt Camassa verschiedene Argumente, die von Anti-Empathikerinnen und -Empathikern gegen Empathie vorgebracht werden. Seine Arbeit ist jedoch nicht als blosse Verteidigung der Empathie aufzufassen. Vielmehr versucht Manuel Camassa zu zeigen, wie Empathie für die wichtigsten Dimensionen der Moral – nämlich moralische Wahrnehmung und Beurteilung, moralische Erziehung und Entwicklung sowie moralische Motivation und Verhalten – nützlich und oft sogar notwendig sein kann. (tr.)