Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften nutzen Forschende zunehmend das Potenzial von Internet und «Big Data». Dass durch den Miteinbezug von Social Media noch mehr möglich ist, zeigt Historikerin Rachel Huber mit ihrem Dissertationsprojekt zur Red-Power-Bewegung.

Grosse Aktivität in den sozialen Medien: einige der im Rahmen der Doktorarbeit aufgefundenen Kanäle und Posts ehemaliger Red-Power-Aktivistinnen. (Screenshot-Collage aus www.facebook.com/WarriorWomenFilm, www.instagram.com/warriorwomenfilm, www.twitter.com/jeanquan #MadonnaThunderHawk-Fundstellen auf www.twitter.com)

Wie erforsche ich diese Geschichte? Es muss einen Punkt gegeben haben, an dem Rachel Huber diese Frage Tag und Nacht beschäftigt hat. Betreut von Professor Aram Mattioli am Lehrstuhl für Geschichte der Neuesten Zeit, wollte sie eine Dissertation zum Thema «Red Power» verfassen. Red Power? Das war eine indigene Bewegung in Nordamerika, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren für die Rechte der Indigenen einsetzte. Eine solche Bewegung ist kein ungewöhnlicher Forschungsgegenstand für Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Sie nutzen historische Quellen, um Themen zu beleuchten und ihre Forschungsfragen zu beantworten. Neben gedruckten Dokumenten verschiedenster Art – im «Original» auf Papier oder als digitalisierte Version im Web – können das auch mündliche Aussagen von Zeitzeuginnen und -zeugen sein.

Wo sind die Frauen?

Doch der gewählte Fokus sollte Rachel Huber vor besondere Herausforderungen stellen: Bereits während ihres Studiums hatte sie festgestellt, dass auf den Literaturlisten fast ausschliesslich Texte über Männer standen. Texte, die meist auch von Männern geschrieben worden waren. Wo sind die Frauen?, dachte sie sich und entschied daraufhin, das Weibliche an Red Power sichtbar zu machen. Ein Zugang oder eine Quelle, so die erste Annahme, könnten historische Zeitungsartikel sein. Schliesslich war die Red-Power-Bewegung sehr medienwirksam vorgegangen und hatte beispielsweise 1969 die Gefängnisinsel Alcatraz in der Bucht von San Francisco besetzt. Während 18 Monaten blieb das berühmt-berüchtigte Gefängnis in ihrer Hand. Da müsste es doch Zeitungsartikel geben, welche die Aktivisten – und eben auch Aktivistinnen – zeigen?

Rachel Huber, Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Professor Aram Mattioli am Lehrstuhl für Geschichte der Neuesten Zeit

Die Medien wurden damals jedoch mehrheitlich von Männern gemacht. Welche wiederum Männer in den Fokus stellten. Die Protagonistinnen hingegen, deren Geschichte Rachel Huber erforschen und aufzeigen wollte, blieben dabei – ähnlich wie in den Texten, die die Forscherin während des Studiums gelesen hatte – unsichtbar. Rachel Huber führt dies heute auf mehrfache Diskriminierung zurück. Das heisst, so erklärt sie knapp zusammengefasst, dass die Frauen gleich aus verschiedenen Gründen benachteiligt wurden: Sie waren indigen, weiblich, stammten aus ärmsten Verhältnissen und bewegten sich noch dazu in einer mündlichen Tradition der Wissensvermittlung, in der das Schreiben kaum zählte.

Ziel: respektvolle Innensicht

Erst weitere, intensive Recherchen förderten schliesslich zwei wissenschaftliche Artikel zutage, welche die Beteiligung der Frauen an Red Power thematisieren und belegen. Frauen, so das Fazit der Autorinnen und Autoren, waren tatsächlich Schlüsselfiguren dieser Bewegung. Und zwar nicht nur zahlenmässig, sondern auch in Sachen Relevanz. Für Rachel Huber stand fest: «Ich muss diese Frauen finden.» Ihr Ziel war es, aus der Perspektive dieser Frauen zu schreiben, die Quellen dieser Frauen zu verwenden und – so gut es als Aussenstehende möglich ist – eine respektvolle Innensicht der Aktivistinnen zu verfassen. Dann entdeckte sie, dass ihre Protagonistinnen in den sozialen Medien aktiv sind.

Diese Quellen waren «born-digital» – das bedeutet, dass sie gar nie analog waren.

Auf Facebook und Co. posteten die ehemaligen Aktivistinnen historische Fotos aus der Zeit des Red Power, sie ordneten mittels Tags und Kommentaren Personen und Namen zu oder ergänzten Bildlegenden. Der lange gesuchte Anknüpfungspunkt für Rachel Hubers Forschungsvorhaben! Die Posts boten nicht nur Zugang zu bisher unerreichbarem Wissen, sondern auch zu den Aktivistinnen selbst. Solche Quellen, wie sie diese Posts darstellen, werden von Historikerinnen und Historikern der Kategorie «born digital» zugeordnet. Das bedeutet, dass sie gar nie analog waren – im Gegensatz zu eingescannten Dokumenten, die an einem Ort auf der Welt als Original in Papierform vorliegen (digitalisierte Quellen) oder zu «reborn digital»-Dokumenten. Gemeint sind damit «born digital»-Quellen, die den Prozess der digitalen Archivierung (Internetarchive, Webrecorder) oder Vervielfältigung (Screenshot, Downloads) durchlaufen haben.

Forscherin als Eindringling

Nach vielen Anfragen und Zurückweisungen flog Rachel Huber im Frühjahr 2018 in die USA und konnte sieben Interviews mit ehemaligen Red-Power-Aktivistinnen führen. Nicht einfach sei das gewesen, erzählt sie. Und ergänzt: «Ich hätte manchmal heulen können.» Denn als weisse europäische Forscherin wurde sie erst einmal als Eindringling gesehen und auf die Probe gestellt. Seither arbeitet Huber daran, die mit den Zeitzeuginnen geführten Interviews mit den Methoden der Oral History zu analysieren und auszuwerten – und die so gewonnenen Erkenntnisse mit «klassischen» Quellen aus Bibliotheken zu stützen. Auf diese Weise ist es möglich, eine Geschichte, die wir so nie gesehen hätten, zu rekonstruieren und zu zeigen. Eine Geschichte, welche die Aktivistinnen und ihre Sichtweisen und Erfolge zeigt, ermöglicht durch Posts in den sozialen Medien, erarbeitet mittels Methoden der Oral History und gestützt durch die Gegenüberstellung mit klassischen Quellen. So erforschen und schreiben wir heute (auch) Geschichte.

Der Arbeitstitel von Rachel Hubers entstehender Doktorarbeit lautet «Can Digital History Make the Narratives of Suppressed Minorities Visible? Digital History as an Epistemological Tool to Challenge Common Metanarratives». Mehr Informationen zur Person und zum Projekt: unilu.ch/rachel-huber

Siehe zum Umgang mit dem Phänomen der digitalen Transformation in der Forschung und Lehre an der Universität Luzern auch das cogito-Interview mit Professorin Sophie Mützel und Professor Daniel Speich Chassé.