Die Politikwissenschafts-Professoren Joachim Blatter und Alexander Trechsel fragen – Martina Caroni, Ordinaria für öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, antwortet.

Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet die Überprüfung staatlicher Hoheitsakte auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung durch ein unabhängiges Gericht. Staatliche Hoheitsakte können dabei sowohl Rechtsanwendungsakte im Einzelfall, beispielsweise ein Strafurteil, als auch staatliche Erlasse wie etwa Gesetze sein. In der Schweiz existiert lediglich eine partielle Verfassungsgerichtsbarkeit: Das Schweizerische Bundesgericht kann zwar kantonale Erlasse sowie Entscheide kantonaler und eidgenössischer Behörden auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüfen und sie gegebenenfalls aufheben. Bei Bundesgesetzen ist dies indes ausgeschlossen. Die Bundesverfassung führt in Art. 190 explizit aus, dass «Bundesgesetze (...) für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend» sind.

Somit unterliegt das Bundesgericht einem Anwendungsgebot: Es kann zwar monieren, dass ein Bundesgesetz verfassungswidrig ist, doch muss es die gesetzliche Bestimmung dennoch anwenden. So gelten etwa die Regelungen über den Nachzug ausländischer Familienangehöriger von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern weiter, obwohl das Bundesgericht festgestellt hat, dass diese Regelungen Schweizer Staatsangehörige gegenüber ausländischen Staatsangehörigen diskriminieren.

Demokratie vs. Rechtsstaat

Im Unterschied etwa zu unseren Nachbarstaaten fehlt in der Schweiz eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses Fehlen einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Bundesgesetzen gründet in der Beziehung zwischen den beiden Prinzipien Demokratie und Rechtsstaat. Beide verfolgen zwar das gleiche Ziel – die Kontrolle und Beschränkung staatlicher Macht –, ihre Stossrichtung ist jedoch unterschiedlich: Während es dem Demokratieprinzip um die Beteiligung des Volkes an der politischen Entscheidfindung geht, zielt das Rechtsstaatsprinzip darauf ab, den Einzelnen vor staatlichem Machtmissbrauch zu schützen. Zwischen dem Demokratie-und dem Rechtsstaatsprinzip kann es daher zu Spannungen kommen: Was soll mit Bundesgesetzen geschehen, die gegen in der Verfassung verankerte Grundrechte verstossen? Soll das vom Volk zwar demokratisch legitimierte, aber verfassungswidrige Bundesgesetz gelten, oder soll den verfassungsrechtlich verankerten – und somit vom Volk ebenfalls demokratisch legitimierten – Grundrechten Vorrang eingeräumt werden? Die Antwort der Bundesverfassung ist klar: nach Art. 190 kommt dem Demokratieprinzip Vorrang zu.

In den letzten 20 Jahren sind wiederholte Versuche, die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen einzuführen, am Widerstand der eidgenössischen Räte gescheitert. Nunmehr vertritt auch der Bundesrat, der lange die Abschaffung von Art. 190 der Bundesverfassung befürwortet hatte, die Ansicht, dass «eine Wiederaufnahme der Diskussion über die Verfassungsgerichtsbarkeit verfrüht und wenig erfolgversprechend» sei.

Martina Caroni

Martina Caroni

Ordinaria für öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht 
unilu.ch/martina-caroni

Im Gefäss «Gefragt? Geantwortet!» stellen sich Forschende im Domino-System disziplinübergreifend Fragen und beantworten diese. Antwort der Fragesteller, Professor Alexander Trechsel und Professor Joachim Blatter, auf die vorherige Frage