Auf den ersten Blick dominieren im Kanton Luzern römisch-katholische Kirchtürme. Daneben gibt es eine erstaunliche Vielfalt, die ein einzigartiges Langzeitprojekt der Religionswissenschaft erforscht und dokumentiert.
Die interaktive Karte des Projekts «Religionsvielfalt im Kanton Luzern» macht es augenfällig: Religiöse Gemeinschaften sind über das ganze Kantonsgebiet verteilt. Die römisch-katholische und weitere christliche Traditionen, dargestellt durch tropfenförmige Markierungen in verschiedenen Blautönen mit weissem Kreuz, dominieren gleichmässig – bis auf den Ballungsraum Luzern. Hier wird das Bild bunter durch orange Symbole (buddhistisch), grüne (islamisch), violette (jüdisch) und gelbe (weitere). Grössere Vielfalt in urbanem Raum – das war zu erwarten. Und doch ist diese Vielfalt vielen unbekannt, da öffentlich zumeist wenig sichtbar.
Es gibt auch Überraschungen: So weist etwa Sursee einzig verschiedene christliche Traditionen auf. Dies, während die nur wenig grössere Agglomerationsgemeinde Ebikon zwei Moscheen hat, Kriens eine, Emmen gar drei. In der Gemeinde Luzern liegt nur eine der drei Moscheen zentral, an der Baselstrasse, die zweite hingegen neben der nördlichen Ausfallstrasse nach Emmen, die dritte im Gewerbegebiet Littauerboden. Zwei weitere Beobachtungen: Das innerchristliche Spektrum besteht keineswegs nur aus römisch-katholisch und reformiert; Freikirchen und orthodoxe Kirchen sind auch geografisch breit verstreut. Auch buddhistische Gemeinschaften finden sich keineswegs nur in dicht bebauten Gebieten, sondern öfter einmal abseits, so etwa im ländlichen Nebikon oder in Gelfingen und schliesslich sogar am Felsentor auf dem Rigi-Massiv.
Langjährige Teamleistung
Hinter der Karte steckt ein Vierteljahrhundert Religionsforschung über den Kanton Luzern. Projekte von solcher Dauer sind in den Kultur- und Sozialwissenschaften selten. Ihre grosse Chance: Sie können Entwicklungen deutlich machen und tiefergehende Erklärungen dafür finden, als es in dem üblichen Projektzeitraum von drei oder vier Jahren möglich ist. Die laufend aktualisierten Texte und Bildergalerien zu den einzelnen Gemeinschaften erzählen von Umzügen innerhalb des Kantons, Wachstum oder Erlöschen. So lässt sich durch eine Filterfunktion anzeigen, welche Gemeinschaften heute nicht mehr bestehen, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten noch aktiv gewesen sind. Ein anderer Filter macht sichtbar, dass die Vielfalt ab Mitte der 1970er-Jahre stark angewachsen ist.
Ein solches Langzeitprojekt ist nur im Team und dank der Mithilfe vieler möglich. Das sind neben dem akademischen Personal des Religionswissenschaftlichen Seminars unter der Leitung von Professor Martin Baumann auch immer wieder Studierende, die sich unter Anleitung der Dozierenden erste Sporen in der Feldforschung abverdienen. Eine wichtige Rolle im Team spielt die Fotografin Elsbeth Iten. Sie hat in Luzern Religionswissenschaft studiert. Jetzt richtet sie ihre Kamera auf Gebäude, Innenräume, Personen, Objekte und Situationen und arbeitet mit ruhigem, klarem Blick jene Aspekte heraus, die eine Karte oder ein Text nur ansatzweise vermitteln kann. Neben dem forschenden Personal helfen oft auch die Beforschten: Es sind nicht zuletzt die Verantwortlichen der religiösen Gruppen selbst, die mit ihren Auskünften oder der Gastfreundschaft bei Führungen ihre Gemeinschaft für die Interessierten öffnen und damit Einsichten überhaupt erst ermöglichen.
Der wissenschaftliche Blick reflektiert dabei auch das eigene Tun, zum Beispiel indem er nach den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellungsform einer Karte fragt.
Geduldiges Beackern des Feldes, auch nach Feierabend und an Wochenenden, ist dabei erst die Vorarbeit für eine Wissenschaft, die durch Analyse verstehen und erklären will. Was führt beispielsweise zur hohen Dynamik im Bereich der Freikirchen, die einerseits von Schweizerinnen und Schweizern, andererseits von Immigrantinnen und Immigranten getragen werden? Wie kommt es, dass so viele Migrationsgemeinschaften und Freikirchen in Gewerbegebieten zusammenkommen? Was passiert gesellschaftlich, wenn eine Gemeinschaft einen Neubau erstellen möchte, etwa die mazedonisch-orthodoxe Gemeinschaft in Triengen? Warum gehen manche Gemeinschaften eifrig von sich aus auf die Öffentlichkeit zu, während andere verschlossen wirken? Der wissenschaftliche Blick reflektiert dabei auch das eigene Tun, zum Beispiel indem er nach den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellungsform einer Karte fragt.
Kultur- und sozialwissenschaftliche Religionsforschung ist über die Universität hinaus von Bedeutung. Den Wandel von einem einst römisch-katholisch dominierten Kanton hin zu einer religionspluralen Gesellschaft mit vielfältigen Angeboten und unterschiedlichen Ansprüchen dokumentiert das Projekt augenfällig. Zudem sind in einer Gesellschaft, in der Kenntnisse und Erfahrungen selbst in der eigenen religiösen Tradition drastisch abnehmen, Fachleute nützlich, welche die scheinbar rätselhafte Welt der Religionen kennen und Phänomene einordnen können. Das zeigt sich regelmässig dann, wenn Ereignisse aus dem Bereich der Religion zum Gegenstand medialer und politischer Debatten werden.
Das Zugänglichmachen der grundlegenden Fakten, aber auch die Vermittlung von weitergehenden Erkenntnissen gehört daher seit einem Vierteljahrhundert eng zum Projekt «Religionsvielfalt im Kanton Luzern». Dies geschieht durch die Materialien auf der Website, mit den dort verfügbaren Filmreportagen, Podcasts und dem Audio-Stadtführer von der St.-Karli-Kirche bis an die Obergrundstrasse in Luzern, aber auch Unterrichtsmaterialien. Hinzu kommen geführte Touren per Bus, Auftritte mit dem Quiz «Stadt, Land, Religion» und Print-Materialien. Dass das Angebot geschätzt wird, zeigt sich aus Rückmeldungen aus Schulen und dem Integrationsbereich, aus Werkstattgesprächen mit Schulklassen und im Zuge der Teilnahme Interessierter an öffentlichen Ringvorlesungen und Exkursionen.
