Flora Colledge pendelt zwischen Spitzensport und Universitätskarriere. Die Belgierin forscht zu Sportsucht und erklärt, warum sie trotz 30 Stunden Training pro Woche nicht betroffen ist.

Flora Colledge mit Velo im Vierwaldstättersee. (Bild: Philipp Schmidli)

Etwas beeindruckend ist es schon, wenn man der 36-Jährigen gegenübersitzt und weiss, dass sie es am norwegischen Norseman-Triathlon schon dreimal aufs Podest geschafft hat. Dieser gilt als einer der härtesten Triathlons der Welt – 3,8 Kilometer Schwimmen im kalten Wasser, 180 Kilometer auf dem Velo und dann einen Marathonlauf über 42,2 Kilometer auf einen über 1800 Meter hohen Berg. Dieses Jahr war Flora Colledge auf dem Velo unterkühlt und musste zwei Stunden pausieren. Die meisten würden das Rennen aufgeben. «Ich hätte mir sagen können: Der Tag ist vorbei», erzählt sie. «Aber ich wollte weitermachen.» Ihr Ziel war es, mindestens 30 Plätze gutzumachen, damit sie es in die ersten 160 schafft, die überhaupt auf den Berg raufdürfen und mit dem schwarzen T-Shirt geehrt werden. Sie stand auf und machte weiter. «Ich fühlte mich so fertig und dachte, dass ich niemals auch nur vier Plätze gutmachen würde.» Schliesslich überholte sie bis zum Ziel 80 Athletinnen und Athleten. «Das war eine unheimlich spannende Erfahrung, die für mich und mein Leben von grosser Bedeutung ist», sagt die Belgierin. Sie habe erfahren, dass sie diese Fähigkeit besitze, alles zu geben und über sich hinauszuwachsen. «Jetzt weiss ich: Ich höre nie auf zu kämpfen.»

Durchgetakteter Alltag

2019 erhielt Flora Colledge als Triathletin die Profi-Lizenz. Sie startet vor allem an Rennen der Xtri-Serie, die extreme Triathlons wie den Norseman beinhaltet. Dreimal konnte sie bereits den Swissman, einmal den Patagonman für sich entscheiden. Zu 60 Prozent arbeitet sie am Departement für Gesundheitswissenschaften und Medizin als Lehr- und Forschungsbeauftragte für Gesundheitsförderung und Prävention. Entsprechend sieht ihr Alltag aus: Ein normaler Tag beginnt frühmorgens mit einem ein- bis eineinhalbstündigen Schwimmtraining. Dann Arbeit an der Forschung, während des Semesters unterrichten. Am Nachmittag steht eine zweite Sporteinheit, Laufen oder Velofahren, auf dem Programm.

«Mein Trainer erarbeitet mit mir zusammen Woche für Woche den Trainingsplan, den ich um meine Arbeit an der Universität herum plane», sagt Flora Colledge. Abends steht manchmal ein drittes Training auf dem Programm. Wenn nicht, arbeitet sie oder erledigt Medienanfragen, da sie ab und an auch als Sport-Expertin gefragt ist.

Genügend Schlaf ist sehr wichtig für die Regeneration.
Flora Colledge

Gegen zehn Uhr abends geht es dann meistens ins Bett. «Genügend Schlaf ist sehr wichtig für die Regeneration.» Auswärts essen gehen, Freunde treffen, Kino- oder Konzertbesuche liegen da nicht drin. «Dafür bleibt oft keine Zeit», gibt Colledge zu. Und abends einfach mal auf dem Sofa rumliegen? Sie lacht. «Manchmal ist das das Einzige, was ich dann noch kann.» Zusammen mit ihrem Partner, einem Kletterer und Kadertrainer aus Deutschland, wohnt sie in Horw. Er begleitet sie an die Wettkämpfe und ist auf den Reisen mit dabei. «Er versteht mein Leben und weiss, dass das Training Priorität hat.» Wenn, dann besteht ihre Freizeitbeschäftigung aus einer leichten Wanderung.

«Die Schweiz und insbesondere Luzern ist wunderschön. Um Sport zu treiben, ist es hier ideal.» Auch sonst gefällt ihr das Land sehr gut. Flora Colledge wuchs in Brüssel auf, der Vater stammt aus England, die Mutter aus Schottland. Beide haben für die EU gearbeitet. Das Multikulturelle und die Vielsprachigkeit hat sie damals hautnah erlebt. «Das schätze ich deshalb auch hier.» 

Alles andere wird Nebensache

Ursprünglich studierte Flora Colledge Politikwissenschaften, Philosophie und Medizinethik in Reading und London, für das Doktorat in Medizinethik wechselte sie an die Universität Basel. Sie forschte in Basel und forscht nun auch in Luzern zu Bewegungssucht. «Sportsucht gehört noch nicht zu den diagnostizierbaren psychischen Störungen, die Forschung dazu steckt noch in den Anfängen», erklärt sie. Es sei ähnlich wie vor rund zehn Jahren mit dem Phänomen Burnout.

Sicher ist, dass Sportsucht für Betroffene einen enormen psychischen Stress bedeutet. «Die Betroffenen leiden und können kein normales Leben führen. Sie stehen unter dem Zwang, ständig Sport treiben zu müssen.» Ist das bei ihr selbst nicht auch so? Flora Colledge verneint. «Diesen Zwang habe ich nicht, vielmehr verfolge ich sportliche Ziele, bei Sportsüchtigen fehlen diese.» Auch wenn es nur sieben Stunden die Woche sind: Wenn diese nicht in den Alltag passen und deswegen Beruf und Privatleben leiden, wird es problematisch. «Alles dreht sich nur noch um den Sport, alles andere wird zur Nebensache, die Betroffenen wechseln ihren Job, beenden ihre Beziehung», beschreibt sie das Phänomen.

Wir sehen, dass häufig Depressionen dahinterstecken.

Betroffen sei nur rund eine Person von 10'000. «Zahlenmässig ist das vergleichbar mit der Heroinsucht.» Die Glücks- oder Belohnungsgefühle, welche sportliche Betätigung auslösen können, werden immer öfter gesucht, entsprechend nimmt die Intensität immer mehr ab. «Der Zwang, das immer wieder zu erleben, wird immer grösser. So kommt es zu einer Spirale der Sucht.» In der Forschung habe man festgestellt, dass es in vielen Fällen um den Versuch geht, sich selbst zu therapieren. «Wir sehen, dass häufig Depressionen dahinterstecken.»

In Luzern forscht Flora Colledge weiter an der Thematik und wird dabei mit Sportärzten zusammenarbeiten. Ein Thema ist die Schnittstelle zwischen Bewegungssucht und dem Übertrainingssyndrom. «Die beiden Phänomene wurden noch nie aus einer gemeinsamen Perspektive untersucht, deshalb liegt unser Ansatz in der Zusammenarbeit zwischen Sportpsychologie und Sportmedizin.»

Spass an der Lehre

Hauptsächlich ist die Spitzensportlerin aber am Unterrichten. In ihren Vorlesungen geht es unter anderem um ethische Aspekte der Gesundheitsförderung. «Die Lehre macht mir Spass, diese Arbeitsform behagt mir. Die Forschung ist spannend, kann aber auch grenzenlos werden.» Die Begrenztheit einer Vorlesung und die Interaktionen, die dabei stattfinden, die Fragen und Diskussionen, das gefällt der Wissenschaftlerin sehr gut. «Heute können viele Krankheiten durch unser Verhalten beeinflusst werden, etwa durch gesunde Ernährung, Stressreduktion oder körperliche Betätigung. Wie schaffen wir es, diese positiven Verhaltensänderungen nachhaltig zu machen? Dies sind wichtige und interessante Diskussionen, die geführt werden müssen.» Dass vor dem Gebäude der Universität in Luzern geraucht wird, findet sie übrigens erstaunlich. «Das habe ich bisher an keiner anderen Uni gesehen. Damit sagen wir im Grunde, dass Rauchen in Ordnung ist. Als Medizinethikerin finde ich das etwas fragwürdig.»

Sportlich hat Flora Colledge noch einige Ziele – etwa, den Norseman zu gewinnen. Warum tut sie sich diese Doppelbelastung an? «Wenn du keine Daniela Ryf bist, kannst du vom Triathlon nicht leben. Zudem finde ich meine Arbeit als Wissenschaftlerin sehr spannend und auch eine gute Abwechslung zum Spitzensportalltag. Und später, wenn ich vom Spitzensport zurückgetreten bin, weiss ich bereits, was ich mit meinem Leben anfange.» Auf die Frage, ob sie schon als Kind so zielgerichtet durchs Leben ging, lacht sie und schüttelt den Kopf. «Ich habe erst mit 21 mit Sport angefangen, den ersten Wettkampf bestritt ich mit 28.» Vorher habe sie gern getanzt und Theater gespielt. Vielleicht hat sie ein wenig Verspieltheit mitgenommen, um ihren Alltag mit der nötigen Leichtigkeit zu bewältigen.