Identitätspolitik ist in aller Munde, doch an profunden quantitativen Untersuchungen mangelt es. Eine Studie schafft verlässliche Daten und zeigt unter anderem: Zentral für das «Ich» und «Wir» der Schweizerinnen und Schweizer ist die Familie.

Ansammlung von Menschen, nur in Umrissen und in verschiedenen Farben gestaltet
(Bild: ©istock.com/FotografiaBasica)

Ob «Black Lives Matter»-Transparente oder der violette Auftritt eines Teils der Gegnerschaft der Pandemiemassnahmen: Allerorts werden Plakate und Fahnen gehisst, um starke Forderungen an Gesellschaft und Politik zu richten – diese Identitätspolitik ist zuweilen begleitet von einer gehörigen Portion Aggressivität. Menschen laden ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit emotional stark auf und verstehen sie als identitätsstiftend; Forderungen erscheinen somit nicht verhandelbar, da es im Kern eben um die Identität geht. Nach diesem Muster handeln inzwischen vielfältige Gruppen. Das nährt die Befürchtung, dass die prinzipielle Gleichheit in Zivilgesellschaft und politischer Gemeinschaft aufgekündigt wird, dass sich weniger Menschen zur politischen Gemeinschaft der Schweiz zugehörig fühlen – gesellschaftspolitisch ein brisantes Szenario. Zwei Schlüsselfragen lauten daher: Wie ist es um das Zugehörigkeitsgefühl zur Schweizer Gesellschaft bestellt? Und wie wirken partikulare soziale Identitäten auf dieses generelle Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft?

Für eine aussagekräftige Messung sollen soziale Identitäten einerseits möglichst konkret abgefragt werden, um der Lebenswirklichkeit der Befragten nahe zu kommen. Anderseits müssen sie möglichst weit und abgestuft erfasst werden. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte deutschschweizerische Forschungsprojekt «Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale» (KONID) hat es ermöglicht, ein neues Befragungsinstrument zu entwickeln, das der heutigen Vielschichtigkeit sozialer Identitäten gerecht wird. Der damit durchgeführte «KONID Survey 2019» umfasst je eine Repräsentativbefragung in Deutschland und der Schweiz. Entstanden ist eine multithematische, ländervergleichende Befragung der Bevölkerung ab 16 Jahren.

Menschen haben ganz grundsätzlich zahlreiche soziale Rollen und Mitgliedschaften. Diese Vielfalt und deren Bewertung bestimmen die soziale Identität. Insgesamt zeigt sich anhand der Erhebung, dass viele der erfragten sozialen Identitäten tatsächlich von hoher Wichtigkeit für die Schweizer Bevölkerung sind (siehe Diagramm). Doch nicht alle sind gleich zentral. Mit Abstand als am wichtigsten erachtet werden die eigene Familienzugehörigkeit und die Zugehörigkeit zum Freundes- und Bekanntenkreis. Eine grosse Mehrheit nennt sie als für sie persönlich «wichtig» oder «äusserst wichtig». Darauf folgen Zivilstand, freiwilliges Engagement, Nationalität, Geschlecht und Beruf. Die Religionszugehörigkeit nach Christentum, Islam und anderen Religionstraditionen ist im Mittelfeld angesiedelt. Die Schichtzugehörigkeit und die spezifische Konfessionszugehörigkeit – beides zentrale, Politik und Gesellschaft strukturierende soziale Identitäten der klassischen Moderne – finden sich hingegen am unteren Ende. Bemerkenswert ist auch die geringe Bedeutung des Wohnkantons und der Sprachregion. Der «Kantönligeist» und auch der «Röstigraben» sind für die soziale Identität der Menschen offenbar nicht so zentral, wie es der öffentliche Diskurs vermuten lassen würde – genauso wie die Identifikation mit der Fan-Gemeinde eines Sportvereins.

Identitätspolitik und die Gegenüberstellung sozialer Identitäten, so die Ausgangsüberlegung, könnten dazu führen, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer zur Gesellschaft allgemein im Land nicht mehr zugehörig fühlen. Doch der «KONID Survey 2019» zeigt: Knapp 60 Prozent der Bevölkerung fühlen sich in der Schweiz «zugehörig» und ein weiteres Drittel «eher dazugehörig». Nur 8 Prozent fühlen sich «eher nicht» oder «nicht dazugehörig». Dieser deutliche Befund spricht für ein starkes, verbreitetes Zugehörigkeitsgefühl in der Schweizer Bevölkerung.

Corona als Einflussfaktor?

Des Weiteren wurde die Rolle der sozialen Identitäten für dieses Zugehörigkeitsgefühl untersucht. Nach der anhand einer Faktoranalyse erfolgten Gruppierung der 21 «äusserst wichtigen» und «wichtigen» sozialen Identitäten wurde deren statistischer Zusammenhang mit dem Zugehörigkeitsgefühl unter Berücksichtigung einschlägiger Kontrollvariablen analysiert. Das Ergebnis zeigt, dass sich soziale Identitäten, insbesondere die Wichtigkeit des räumlichen (etwa Region, Kanton, Wohnort) und sozialen Nahbereichs (wie Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Engagement), positiv auf das Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung zur Schweiz auswirken. Klassische identitätspolitische Felder wie Rollen- und Statusidentität, aber auch religiöse Identität haben hingegen keinen Einfluss darauf. Das Zugehörigkeitsgefühl zur Schweizer Gesellschaft ist von identitätspolitischen Konflikten also bislang weniger stark beeinflusst, als vielleicht angenommen. Ob die Corona-Krise mit ihren Kontaktbeschränkungen, aber auch durch persönliche Konflikte um die Massnahmen im Nahumfeld Schäden hinterlassen hat und wie sich diese auf das Zugehörigkeitsgefühl zur Schweiz auswirken, ist offen. Weitere Forschung ist daher nötig, um die mittelfristigen Folgen der Pandemie für soziale Identitäten und das Zugehörigkeitsgefühl zur Schweizer Gesellschaft einschätzen zu können.

Antonius Liedhegener

Antonius Liedhegener

Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP), Studienleiter
unilu.ch/antonius-liedhegener

Foto Anastas Odermatt

Anastas Odermatt

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZRWP, Studien-Co-Autor
unilu.ch/anastas-odermatt