Die Kosten im Schweizer Gesundheitssystem steigen schon seit Jahren. Das liegt auch an verschiedenen Fehlanreizen im System. Die Gesundheitsökonomie hilft, diese zu verstehen und effektive Lösungsvorschläge zu erarbeiten.

(Bild: istock.com/AndreyPopov)

Die Kosten im Gesundheitssystem steigen – absolut und relativ zu unseren Einkommen, und anscheinend unaufhaltsam. Das bringt Diskussionen mit sich, auf politischer Ebene und in der Bevölkerung. Diese nimmt die Konsequenzen des Kostenwachstums jeweils im Herbst wahr, spätestens und mit entsprechendem medialem Echo, sobald die Krankenversicherer die neuen Prämien in der obligatorischen Grundversicherung veröffentlichen.

Diese sind in den letzten beiden Jahrzehnten um durchschnittlich etwa 4 Prozent pro Jahr gestiegen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im gleichen Zeitraum um durchschnittlich nur etwa 1,5 Prozent pro Jahr, die Nominallöhne um etwa 1,3 Prozent. Das Kostenwachstum betrifft dabei alle Bereiche des Gesundheitswesens, von der ambulanten und stationären Versorgung bis hin zu den Medikamenten.

Leistungsfähig und komplex

Doch warum steigen die Kosten, und wer ist schuld daran? Pauschal lässt sich das natürlich nicht beantworten, und es müssen hier wohl alle Akteure im Gesundheitswesen in die Pflicht genommen werden. Bei dem Diskurs um das Kostenwachstum geraten nämlich zwei Dinge häufig ins Hintertreffen: Erstens, dass das Schweizer Gesundheitssystem im internationalen Vergleich äusserst leistungsfähig ist. Es zeichnet sich durch eine sehr gute Versorgung aus, einen garantierten Zugang zu Gesundheitsleistungen durch die Grundversicherung und einen Wirtschaftsstandort, der Forschung und Entwicklung in allen Bereichen des Gesundheitswesens fördert. Das kann und muss auch etwas kosten. Zweitens ist das Gesundheitssystem hochgradig komplex. Verschiedene Leistungserbringer erfüllen ganz unterschiedliche Aufgaben und sehen sich einer Reihe von ökonomischen Anreizen und Regulierungen gegenüber, die versuchen, das Gesundheitssystem zu steuern und dem gesteckten Ziel einer qualitativ hochstehenden, finanzierbaren und zugänglichen Versorgung gerecht zu werden.

Ebendiese Komplexität trägt dazu bei, dass die Ausgestaltung von Anreizen zur Kostendämmung nicht ganz einfach ist und deren Wirkung nicht immer in die gewünschte Richtung geht. Etwa die 2012 eingeführte Spitalfinanzierung: Diese basiert auf einem sogenannten Fallpauschalen-System. Aus ökonomischer Sicht hat dieses Vorteile, insbesondere kann es den Wettbewerb zwischen den Spitälern stärken und zu einer effizienteren Leistungserbringung anregen. Aufgrund der mengenorientierten Ausgestaltung des Vergütungssystems und der ungleichen finanziellen Anreize im stationären und ambulanten Sektor gibt es allerdings auch unerwünschte Wirkungen. Spitäler haben den Anreiz, ihre Fallzahlen auszuweiten, ihr Angebot auf lukrative Fälle auszurichten oder in andere Leistungsbereiche,
etwa den ambulanten Sektor, zu verlagern; dies aus ökonomischen, nicht aus medizinischen Motiven.

Spitäler haben den Anreiz, ihre Fallzahlen auszuweiten; dies aus ökonomischen, nicht aus medizinischen Motiven.
Stefan Boes, Professor für Gesundheitsökonomie und Direktor des Center for Health, Policy and Economics

Im Rahmen von zwei am Center for Health, Policy and Economics (CHPE) realisierten Studien konnten wir zeigen, dass eine Mengenausweitung im Bereich von spezifischen Diagnosen (zum Beispiel künstliche Kniegelenke) tatsächlich stattzufinden scheint und die Effizienz der Universitätsspitäler zumindest kurzfristig nach Einführung der neuen Spitalfinanzierung zurückgegangen ist. Diese Resultate haben Implikationen für die Weiterentwicklung des Systems, insbesondere hinsichtlich des Einbezugs von qualitätsbezogenen Aspekten in der Vergütung.

Ein weiteres Beispiel betrifft die Krankenversicherung: Die obligatorische Grundversicherung erlaubt es den Versicherten, aus verschiedenen Versicherungsmodellen zu wählen. Einerseits umfasst dies Hausarzt- oder Managed-Care-Modelle, welche in der Regel mit einer Einschränkung der freien Arztwahl einhergehen. Anderseits können die Versicherten aus verschiedenen Franchisenstufen wählen und damit den Betrag festlegen, den sie bei einem Leistungsbezug pro Kalenderjahr selbst bezahlen. Diese Wahlmöglichkeiten sind grundsätzlich positiv, da sie den Versicherten erlauben, ein für sie passendes Modell zu finden. Verhaltensökonomisch lässt sich jedoch argumentieren, dass diese Wahl auch überfordern kann. Und tatsächlich: In Experimenten am CHPE konnten wir zeigen, dass die Teilnehmenden sich tendenziell besser entscheiden, wenn sie entweder aus weniger Alternativen wählen oder eine gezielte Entscheidungshilfe erhalten. Dieses Ergebnis spricht dafür, das Versicherungssystem so einfach wie möglich und transparent zu gestalten, um die Versicherten bei ihrer Versicherungswahl optimal zu unterstützen.

Vor dem Hintergrund steigender Gesundheitskosten und Versicherungsprämien zeigt sich noch ein weiteres Problem: Um den hohen Prämien entgegenzuwirken, entscheiden sich viele Versicherte für ein Modell mit beschränkter Arztwahl oder höherer Franchise. Wenn dann Versicherte vor allem aus bescheidenen Einkommensverhältnissen auf notwendige Arztbesuche aus finanziellen Gründen verzichten, ist das gesamtgesellschaftlich sicher nicht optimal. Der Staat versucht dem mit einem Prämienverbilligungssystem entgegenzuwirken – die derzeitige Ausgestaltung begünstigt jedoch eine Überversicherung der Betroffenen und damit auch die Möglichkeit eines medizinisch nicht notwendigen Überkonsums. Diese Mechanismen konnten wir in einer ersten Untersuchung zu den Prämienverbilligungen in der Schweiz zumindest teilweise bestätigen; weitere Forschung zu dem Thema findet im Rahmen eines gerade gestarteten Nationalfonds-Projekts statt.

WZW-Kriterien als Leitlinie

Die Liste der Beispiele für Fehlreize lässt sich beliebig erweitern: unzureichender Risikoausgleich zwischen den Versicherern, geplante Preisregulierung für pharmazeutische Produkte, monetäre Anreize in der ambulanten Versorgung, Konsumverhalten von Patienten und eine immer häufiger zu beobachtende Vollkasko-Mentalität. Grundsätzlich gilt, dass sämtliche neuen Regulierungen und ökonomischen Anreize immer bezüglich ihrer Wirksamkeit und Zweckmässigkeit beurteilt werden müssen, vorgängig hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit (die sogenannten WZW-Kriterien). Das vom Bundesrat 2018 lancierte und auf einem Expertenbericht basierende Kostendämpfungsprogramm ist also durchaus positiv zu werten. Health Technology Assessments und die Entwicklung innovativer Anreize für mehr Effizienz im Gesundheitssystem sind dabei nur zwei Aspekte, mit denen sich die Gesundheitsökonomie auch in Zukunft weiter beschäftigen wird – und das Thema Kosten im Gesundheitswesen wird dabei seinen Reiz sicher nicht verlieren.

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Stefan Boes

Professor für Gesundheitsökonomie und Direktor des Center for Health, Policy and Economics
unilu.ch/stefan-boes