Unsere Wahrnehmung täuscht uns öfter, als wir denken. Gerade bei Ermittlungsverfahren kann dies problematisch werden. Helen Wyler, Assistenzprofessorin für Rechtspsychologie, zeigt Fallstricke und Lösungsmöglichkeiten auf.
Helen Wyler, es ist verblüffend: In einem Video fragt ein bärtiger Mann Vorübergehende, ob sie ihn fotografieren könnten. Während diese den Apparat in die Hand nehmen, gehen Handwerker mit einem grossen Plakat vorbei und verdecken den Mann für einen kurzen Moment – er wird durch jemanden ohne Bart ausgetauscht. Vielen der gezeigten Probandinnen und Probanden fällt dies nicht auf. Wie ist so etwas möglich?
Helen Wyler: Bei diesem Beispiel handelt es sich um die sogenannte Veränderungsblindheit. Es geht dabei darum, dass unser Hirn aus der schieren Fülle der zur Verfügung stehenden Informationen diejenigen vorrangig verarbeitet, die im Moment als relevant erachtet werden. In diesem Fall ist es das Fotografieren. Die Probandinnen und Probanden sind so sehr mit der Kamera beschäftigt, dass sie ihr Gegenüber nur oberflächlich wahrnehmen.
Unsere Wahrnehmung versagt also gewissermassen?
Ja, aber das ist evolutionär sinnvoll: Unsere Filter lassen primär das durch, was wir in der jeweiligen Situation benötigen. Damit kommen wir in der Regel gut durch den Alltag: Wenn ich durch die Stadt gehe und Hunger habe, riecht es plötzlich überall so gut. Wenn ich satt bin und stattdessen nach Schuhen Ausschau halte, nehme ich die Gerüche weniger wahr, entdecke dafür aber an jeder Ecke Schuhgeschäfte, die mir bisher kaum aufgefallen sind. Das Justizsystem ist allerdings auf präzise, zuverlässige und möglichst unverzerrte Prozesse angewiesen. Das kann zu Problemen führen.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit der Bedeutung von solchen psychologischen Erkenntnissen im rechtlichen Kontext. Derartige Aspekte können bei Justizirrtümern eine zentrale Rolle spielen.
Genau, mich interessiert, wie wir Erkenntnisse aus der Psychologie – beispielsweise zu kognitiven Verzerrungen oder zu falschen Erinnerungen – in diesem Zusammenhang nutzen können. Dabei spielen die verschiedenen im Ermittlungsprozess Involvierten eine wichtige Rolle: von Auskunftspersonen und Zeugen über Verdächtige und Angeklagte bis hin zu den Ermittelnden. Nehmen wir das Beispiel einer Einvernahme: Kommt es hier zu suggestiven Befragungen, ist es wichtig zu verstehen, wie diese sich auf die Aussagen auswirken und wann und warum solche Praktiken genutzt werden. Die Situation muss also aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Die Art und Weise, wie eine Einvernahme geführt wird, hat Auswirkungen auf die Antworten, und diese beeinflussen wiederum die Folgefragen. Deshalb ist es wichtig, dieses Zusammenspiel zu erforschen. Aktuell beschäftigen wir uns im Rahmen eines Pilotprojekts mit der Frage, inwiefern Methoden aus der virtuellen Realität hilfreich sein können, um Einvernahme-Situationen zu untersuchen (siehe Box).
In Ermittlungsverfahren sind seitens der Behörden ja verschiedene Personen involviert. Können die Folgen solcher Prozesse auf diese Weise nicht wieder verringert oder
sogar neutralisiert werden?
Das ist ja das Frappante: Man denkt, dass zum Beispiel eine fehlerhafte Zeugenaussage oder ein falsches Geständnis im Verlaufe von Ermittlungen auf jeden Fall korrigiert werden könne. Aber manchmal verselbständigt sich ein Prozess – es entsteht die fixe Überzeugung, dass es zwingend so und so gewesen sein muss. Wegen des daraus folgenden sogenannten Bestätigungsfehlers suchen die Ermittelnden nach anderen Informationen und interpretieren diese anders. Zudem können etwa Lügenstereotype hineinspielen: Damit ist die verbreitete Auffassung gemeint, gemäss der eine lügende Person nervös und ängstlich auftritt, schwitzt und den Blick des Gegenübers meidet. Die Forschung hat einen solchen klaren Zusammenhang allerdings widerlegt. Nichtsdestotrotz werden solche Hinweise immer wieder als Indiz fürs Lügen gedeutet. Die falsche Interpretation der Hinweise führt zu mehr Druck in Einvernahmen, was die Nervosität weiter erhöht, wodurch sich die ermittelnde Person in ihrer Annahme noch mehr bestätigt sehen kann. Indem die polizeilichen Einvernahmen in die Akten gelangen und von den Strafverfolgungsbehörden gelesen werden, können solche Verfälschungen durch das ganze System gehen – im schlimmsten Fall bis zum Urteil.
Die meisten glauben, dass nur andere Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen und man selbst davon nicht betroffen ist.
Das Beispiel des Falles Rudi Rupp Anfang der Nullerjahre in Deutschland ist besonders erstaunlich: Die Familienmitglieder gestanden, den Mann ermordet und zerstückelt zu
haben. Dies stellte sich Jahre später als falsch heraus, als man den äusserlich weitgehend unversehrten Leichnam in einem Auto im Wasser fand. Wie ist so etwas möglich?
Zuerst einmal gab es in diesem Fall wenige Informationen und Spuren, weshalb den Aussagen der Beteiligten viel Gewicht zukam. Nach einer gewissen Zeit schien sich aber bei den Ermittelnden eine Schuldannahme herausgebildet zu haben, was die Anwendung von hoch suggestiven und ineffizienten Befragungsstrategien begünstigte. Zudem handelte es sich um vulnerable Personen: Einerseits waren die Töchter noch jugendlich, andererseits wiesen alle befragten Personen eine verminderte Intelligenz auf. Aus der Forschung weiss man, dass solche Faktoren zu einem deutlich höheren Risiko für falsche Geständnisse führen. Diesen Personen fällt es schwerer, dem Druck standzuhalten und die Folgen ihrer Aussagen abzuschätzen. Ebenfalls wurden alternative Erklärungen ausser Acht gelassen, etwa ein möglicher Suizid. Auch gab es widersprüchliche Aussagen, die für Skepsis hätten sorgen müssen. Der Bestätigungsfehler begünstigte hier die Entstehung eines falschen Urteils bei hoher Sicherheit trotz schwacher Beweislage.
Eine Schuldvorannahme ist schnell passiert. Wie kann man dem entgegenwirken?
Es besteht das grundsätzliche Problem der sogenannten Verzerrungsblindheit. Die meisten glauben, dass nur andere solchen Verzerrungen unterliegen und man selbst davon nicht betroffen ist. Es braucht also ein Bewusstsein, dass dies uns allen passieren kann. Diese Abkürzungen und Heuristiken sind eine so weit durchaus sinnvolle «Sparmassnahme» unseres Gehirns. Gerade im rechtlichen Kontext können diese – wie wir gesehen haben – allerdings schwerwiegende Folgen haben. Um dieser «Sparmassnahme» entgegenzuwirken, braucht es kognitive Ressourcen, Zeit und die Motivation, die Notwendigkeit zu sehen, dass man stets kritisch und offen für andere Erklärungen sein muss. Wichtig ist, immer alternative Annahmen zu haben und diese auch systematisch zu überprüfen – so kann man möglichen Fehlannahmen etwas entgegensetzen.
Das sind spannende und wichtige Erkenntnisse. Wie fliessen diese in die Praxis ein?
Dieser Transfer ist mir ein grosses Anliegen. So halte ich unter anderem Vorträge für Praktikerinnen und Praktiker aus der Ermittlung und bin bei Weiterbildungsveranstaltungen für Personen beispielsweise aus der Polizei involviert. Ebenfalls bereiten wir ausgewählte Forschungserkenntnisse auf Deutsch auf, um sie für diese Personen leichter zugänglich zu machen. Im Bereich der Einvernahmen passiert aktuell erfreulich viel: So wurden 2021 zum Beispiel die Méndez-Prinzipien veröffentlicht. Diese zeigen unter anderem auf, wie wissenschaftlich fundiert wirkungsvolle und menschenrechtskonforme Einvernahmen durchgeführt werden können. Ich bin Mitglied eines von der EU finanzierten Netzwerks, der sogenannten «COST Action CA22128», das die Umsetzung dieser Prinzipien in Europa und darüber hinaus unterstützt. Ebenfalls gibt es vermehrte Bemühungen, diese Themen ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken und auch die Politik von der Notwendigkeit, hier anzusetzen, zu überzeugen.
Also kann Forschung auf diesem Gebiet einiges bewirken?
Ja, es geht darum, theoretisches Verständnis, aber auch praktische Erkenntnisse zu vermitteln. Was die Unterscheidung von Wahrheit und Täuschung anbelangt, um nur eines von diversen Themen zu nennen, ist es von immenser Wichtigkeit, dass den Ermittlungsbehörden zuverlässige, wissenschaftlich geprüfte Informationen vorliegen. Mein Ziel ist es, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in der Theorie verharren, sondern für die Praxis nutzbar gemacht werden, um die Fairness und die Effizienz von Ermittlungen und Verfahren zu unterstützen.
«Virtual Reality» als Forschungstool
Das neu eingerichtete Verhaltenswissenschaftliche Labor der Universität Luzern bietet eine moderne Infrastruktur für die Grundlagenforschung sowie praxisorientierte Studien und gelangt in der Forschung und Lehre zum Einsatz. Ein aktuelles Pilotprojekt verfolgt einen kollaborativen Ansatz: Assistenzprofessorin Helen Wyler arbeitet dabei mit Professor Matthias Ertl (Rehabilitationswissenschaften, Universität Luzern) sowie Professor André Thomas und Dr. Markus Zank (beide Immersive Realities Research Lab, Hochschule Luzern) zusammen. Ziel des Gesamtprojekts wird es sein, eine qualitativ hochwertige virtuelle Welt zu entwickeln, die für unterschiedliche Fragestellungen genutzt werden kann.
Für Wyler steht die Frage im Zentrum, inwiefern sich virtuelle Welten für Studien im Bereich der Einvernahme-Psychologie als nutzbringend erweisen könnten. Ertl setzt den Fokus auf die Thematik der Navigationsfähigkeit von Personen mit Hirnverletzungen, während sich Thomas und Zank mit technischen Aspekten beschäftigen. Das Besondere am Projekt ist die Bündelung der Perspektiven: Alle am Projekt Beteiligten haben ähnliche Bedürfnisse an eine virtuelle Umgebung und können so Ressourcen effizient nutzen. Gleichzeitig ermöglicht es diese Kooperation, generelle Fragen zu Einflussfaktoren bezüglich Realitätsnähe von VR-Erfahrungen über verschiedene Bereiche hinweg zu untersuchen.
Helen Wyler hat im Rahmen des Pilotprojekts bereits eine erste Studie durchführen können. Sie zieht ein positives Fazit: «Die Infrastruktur funktionierte reibungslos und bot ideale Bedingungen – beste Voraussetzungen für weitere Projekte an der Schnittstelle von Rechtspsychologie, Rehabilitationswissenschaften und Virtual-Reality-Forschung.»


