Zünfte, Logen, Burschenschaften: Manche Organisationen scheinen resistent gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel, lassen etwa Frauen als Mitglieder nicht zu und geben sich intransparent. Dass sie damit durchkommen, hat mit ihrer Wandelbarkeit zu tun.

Illustration eines Schnauzes

Offenbar verändert die Welt sich rasant. Die Digitalisierung wurde innert kürzester Zeit allgegenwärtig und integraler Bestandteil unserer Alltagspraktiken, technische Geräte mit wenigen Jahren auf dem Buckel gelten als komplett überholt, und ganz allgemein wird unserer Gesellschaft Schnelllebigkeit zugeschrieben, manchmal auch diagnostiziert. In der Statistik hat dieser Wandel in der berühmten Hockeyschläger-Kurve die prägende Abbildung gefunden – sei dies hinsichtlich der Steigerung des weltweiten Bruttoinlandprodukts, des globalen Temperaturanstiegs oder exorbitanter Kursgewinne an den Märkten.

Soziologisch werden viele solcher Steigerungsprozesse unter dem Begriff der Rationalisierung subsumiert. Gemeinhin werden darunter vernunft- und effizienzgesteuerte Prozesse verstanden, die sich in Formalstrukturen, Berechnung und Messbarkeit niederschlagen und so vor allem Organisationen häufig Legitimität verleihen. Organisationen als moderne Akteure sind diesem Wandel einerseits aus Legitimierungs- und Rechtfertigungsgründen stark ausgeliefert, konstituieren den Wandel andererseits massgeblich mit. Wandel ist entsprechend organisationaler Alltag, wie sich unschwer an erfolgreichen Organisationen wie Nokia (vom Holzstoff- zum Tech-Hersteller) oder Nestlé (von Säuglingsnahrung zum Lebensmittelgiganten) erkennen lässt.

Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Organisationen, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Sie widersetzen sich nicht nur ganz allgemein gültigen Erwartungen wie etwa nach Gleichberechtigung der Geschlechter oder der Forderung nach transparentem Handeln, sondern hüllen sich in Verschwiegenheit und Diskretion. Beispiele für solche Organisationen sind Service oder Business Clubs, Männerbünde wie Logen, Zünfte oder Bruder- respektive Schwesternschaften, Alumni-Organisationen, Studentenvereinigungen, Schützenvereine oder rurale Korporationen. Aufgrund ihrer Resistenz gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen passt auf diese Organisationen das Attribut «obskur». Erstaunlich ist bei diesen sich bedeckt haltenden, vermeintlich resistenten Organisationen, dass sie eigentlich echte Überlebenskünstler sind. Viele obskure Organisationen weisen im Verlauf ihrer Geschichte eine Zweckverschiebung auf. Service Clubs haben sich von Filzverbünden zu Charity-Organisationen entwickelt, Zünfte von Marktkoordinatoren zu Traditionsvereinen oder Logen von aufklärerischen Sozietäten zu Selbstverbesserungsgruppen. Sind obskure Organisationen also verstaubte und träge Überbleibsel einer längst vergangenen und überholten Zeit? Das Gegenteil ist der Fall. Dass Organisationen wie diese auch in Zeiten bestehen, in denen normative Erwartungen wie etwa nach Geschlechtergleichheit, Mitgliederdiversität oder Binnentransparenz stets präsenter werden, zeugt von ihrer Agilität. Damit solche Organisationen sich also auch heute behaupten können wie zu ihren Gründungszeiten, ist folglich sehr voraussetzungsreich. Wie schaffen das diese vermeintlichen Anti-Change-Akteure?

Wichtig sind interne Rituale und Praktiken, die über die Jahre zum Selbstzweck geworden sind.

Obskure Organisationen sind nicht komplett von ihrer Umwelt abgekapselt, sondern stehen in partiellem und meist zeremoniellem Austausch mit ihrer spezifischen Umwelt (Zünfte und die Fasnacht, Service Clubs und Charity-Veranstaltungen, Burschenschaften und ihre Universitäten etc.). Doch diese zeremoniellen Aktivitäten nehmen nur einen kleinen Teil des Organisationsalltags ein. Wichtiger sind interne Rituale und Praktiken, die über die Jahre zum Selbstzweck geworden sind. Diese sind geprägt von einem Mythos aus der Gründungszeit der jeweiligen Organisation und werden wieder und wieder aktiviert, um das organisationale Narrativ und damit die Legitimierung dieser Praktiken zu gewährleisten. Vor allem zwei Aspekte sind bei obskuren Organisationen zentral: die Mitgliederselektion und eine idealisierte Form von Intimität zwischen den Mitgliedern. Beide Aspekte dienen der Gemeinschaftsbildung und haben Folgen für die Vernetzung der Mitglieder: Konkret werden ausgewählte Personen zusammengebracht, indem verschleierte, quasi-starke Beziehungsnetzwerke konstruiert werden, die ohne die obskure Organisation nicht bestehen würden. Dies oft auch mit Implikationen für wirtschaftliche oder politische Entscheidungs- und Meinungsbildung.

Obskure Organisationen sind also vor allem an sich selbst interessiert. Ihre organisationalen Abläufe drehen sich um die Organisation und ihre Mitglieder als Selbstzweck, wobei der formale Zweck durchaus weiterverfolgt wird, allerdings oft in zeremonieller Art und mit weit weniger Aufwand, als die internen Praktiken gepflegt werden. So gesehen sind obskure Organisationen keine Anti-Changer, sondern eher Widersetzer. Resistenz ist eine von verschiedenen Formen von Wandel. Obskure Organisationen haben dieses Verhalten perfektioniert, während dies für Organisationen anderer Prägung, beispielsweise Unternehmen, kaum möglich ist.

Foto Roman Gibel

Roman Gibel

Oberassistent am Soziologischen Seminar. Er promovierte 2019 zur hier vorgestellten Thematik. Seine Doktorarbeit erscheint im kommenden September in Buchform unter dem Titel «Obskure Organisationen. Logen, Clubs und Männerbünde als organisationssoziologische Sonderfälle».
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